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Werkstatt für kollegiale Führung
Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
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Bernd Oestereich

Impulsgeber für kollegial geführte Organi­sationen mit Erfahrung als Unternehmer seit 1998. Sprecher und Autor inter­national verlegter Bücher.
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Nach der Agi­li­tät: Inte­gra­li­tät

In der Pro­dukt- und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung ist Agi­li­tät das Schlag­wort der Zeit, ein popu­lä­res Mit­tel, den Tay­lo­ris­mus zu trans­for­mie­ren und ein Tur­bo für den Kapi­ta­lis­mus. Ange­sichts der den Pla­ne­ten bedro­hen­den Kata­stro­phen däm­mern uns jedoch all­mäh­lich die gesell­schaft­lich weit­ge­hend unkon­trol­lier­ten Aus­wir­kun­gen des Kapi­ta­lis­mus. Um die­se ein­zu­däm­men oder zu hand­ha­ben, reicht Agi­li­tät allei­ne nicht aus, son­dern ist um Inte­gra­li­tät zu ergän­zen.

Vor dem Tay­lo­ris­mus war unse­re Öko­no­mie vor allem geprägt durch die regio­na­le Hand­werks­kunst, deren Ziel die Effek­ti­vi­tät war. Es galt, nütz­li­che Pro­duk­te und Dienst­leis­tun­gen für die loka­le Gesell­schaft her­zu­stel­len. Mit dem Tay­lo­ris­mus rück­ten die Pro­duk­ti­vi­tät und Effi­zi­enz in den Vor­der­grund, um so vie­le Pro­duk­te wie mög­lich güns­tig für die Mas­se anzu­bie­ten. Die Auto­ma­ti­sie­rung und Stan­dar­di­sie­rung von Abläu­fen und Pro­duk­ten ent­fal­te­te ihre Wir­kung in glo­ba­len Zusam­men­hän­gen.

Die­se Zusam­men­hän­ge wur­den immer kom­ple­xer und die kau­sa­len Denk- und Hand­lungs­mus­ter die­ser Zeit ver­sag­ten zuneh­mend. In den 1990er Jah­ren ent­wi­ckel­te sich als Ant­wort dar­auf die Agi­li­tät, die sich in den letz­ten 20 Jah­ren, begin­nend in der Soft­ware­indus­trie, stark ver­brei­te­te. Die Kom­bi­na­ti­on von hoher Effek­ti­vi­tät, hoher Effi­zi­enz und wach­sen­der Agi­li­tät ermög­lich­te der Mensch­heit eine extre­me tech­no­lo­gi­sche und öko­no­mi­sche Ent­wick­lung. Unser Umgang damit und die uns hier­bei bis­lang lei­ten­den Denk­struk­tu­ren wer­den die­ser Ent­wick­lung aber nicht gerecht.

So wie es die Agi­li­tät bedurf­te, um die kom­ple­xen und dyna­mi­schen Zusam­men­hän­ge hand­ha­ben zu kön­nen, so benö­ti­gen wir nun die Inte­gra­li­tät (so nen­ne ich dies in Ana­lo­gie zur Agi­li­tät ein­fach mal), um die ent­fes­sel­te öko­no­mi­sche Macht ver­ant­wor­ten und kon­trol­lie­ren zu kön­nen. Bereits der Wech­sel von der Manu­fak­tur zum Tay­lo­ris­mus erfor­der­te ein grund­sätz­li­ches Umden­ken. Und so, wie die Agi­li­tät im Kern ein Wech­sel unse­rer Denk­struk­tu­ren (Mind­sets, men­ta­le Model­le) dar­stell­te, so geht es bei der Ent­wick­lung zur Inte­gra­li­tät auch wie­der genau dar­um.

Die Metho­den und Werk­zeu­ge der Agi­li­tät berück­sich­ti­gen bereits sys­tem­theo­re­ti­sche und sys­te­mi­sche Prin­zi­pi­en – ihr Anwen­dungs­be­reich bleibt dort aber beschränkt auf die unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hän­ge der öko­no­mi­schen Akteu­re. Agi­li­tät ermög­licht es uns, Pro­duk­te in einem dyna­mi­schen Kon­text zu ent­wi­ckeln, in dem zu Beginn noch nicht ein­mal das Pro­dukt und der Markt klar oder sta­bil oder vor­her­seh­bar sein müs­sen. Der gedank­li­che Rah­men bleibt aber weit­ge­hend beschränkt auf die Öko­no­mie, das öko­no­mi­sche Sys­tem. Die gesell­schaft­li­chen und pla­ne­ta­ren Wech­sel­wir­kun­gen (von pre­kä­ren Arbeits­ver­hält­nis­sen bis hin zum Kli­ma­kol­laps) blei­ben außen vor.

In den gesell­schaft­li­chen und zuneh­mend auch in poli­ti­schen Sys­te­men wächst die Ein­sicht in die glo­ba­le Bedro­hung, die vom frei­lau­fen­den öko­no­mi­schen Sys­tem aus­geht. Noch kön­nen öko­no­mi­sche Akteu­re (Unter­neh­men) die pla­ne­ta­ren und gesell­schaft­li­chen Res­sour­cen (Atmo­sphä­re, Was­ser, Boden­schät­ze, Daten) weit­ge­hend unge­hin­dert ver­brau­chen und aus­beu­ten. Emis­si­ons­han­del, CO2-Beprei­sung, Daten­schutz­re­geln und ähn­li­ches sind ers­te Ansät­ze, die dar­auf hin­deu­ten, dass die gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Sys­te­me zu ihrem eige­nen Über­le­ben dem öko­no­mi­schen Sys­tem einen stär­ke­ren Rah­men set­zen könn­ten. Mei­ne The­se: Da der dies­be­züg­li­che Druck wei­ter steigt und anders als bei Tay­lo­ris­mus und Agi­li­tät nun auch zivi­li­sa­to­risch exis­ten­zi­ell ist, wird Inte­gra­li­tät unver­meid­lich an Bedeu­tung gewin­nen.

Inte­gra­li­tät geht über Agi­li­tät hin­aus

Inte­gra­li­tät geht jedoch über sys­tem­theo­re­ti­sche und sys­te­mi­sche Aspek­te der Agi­li­tät hin­aus, weil es sys­te­mi­sche Wech­sel­wir­kun­gen nicht nur aus der Per­spek­ti­ve und zum Nut­zen eines han­deln­den Sub­jek­tes berück­sich­tigt, son­dern in der Annah­me einer All­ver­bun­den­heit das Han­deln ein­zel­ner Sub­jek­te im Hin­blick auf das Gesamt­wohl im Fokus hat. Das ist neu und wird selbst im kol­lek­ti­vis­ti­schen Chi­na unter dem Begriff Tianxia neu dis­ku­tiert. Und es ent­spricht dem typi­schen Ent­wick­lungs­pfad inte­gra­ler Model­le wie bspw. Spi­ral Dyna­mics, in denen sich mit jedem Ebe­nen­wech­sel auch der Fokus zwi­schen Ein­zel­heit und Gesamt­heit ver­schiebt.

Da das öko­no­mi­sche Sys­tem nur ein Teil die­ser Gesamt­heit ist, wird die Öko­no­mie sich dahin­ge­hend anpas­sen müs­sen, dass sie in einen grö­ße­ren Rah­men ein­ge­bet­tet und somit mehr regle­men­tiert wer­den wird. Hin­zu kommt, dass in die­ser neu­en Kom­ple­xi­tät immer mehr Para­do­xien sicht­bar wer­den, die es zu hand­ha­ben gilt (hier muss ich an die Quan­ten­phy­sik den­ken, die sei­ner­zeit aus ähn­li­chen Grün­den not­wen­dig wur­de).

Ver­mut­lich wer­den dabei Wer­te rele­vant wer­den. Wiki­pe­dia defi­niert: Wert­vor­stel­lun­gen oder kurz Wer­te bezeich­nen im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch als erstre­bens­wert oder mora­lisch gut betrach­te­te Eigen­schaf­ten bzw. Qua­li­tä­ten, die Objek­ten, Ideen, prak­ti­schen bzw. sitt­li­chen Idea­len, Sach­ver­hal­ten, Hand­lungs­mus­tern, Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten oder auch Gütern bei­gemes­sen wer­den.

Für rein öko­no­misch ori­en­tier­te Sys­tem­theo­re­ti­ker sind Wer­te und Moral mög­li­cher­wei­se eben­so wenig anschluss­fä­hi­ge Kon­zep­te wie für neo­li­be­ra­le Öko­no­men. Wir soll­ten uns hier nicht beir­ren las­sen und statt­des­sen wei­ter­hin die Ent­wick­lungs­stu­fe der Inte­gra­li­tät kraft­voll und krea­tiv aus­ge­stal­ten. Ein gesell­schaft­li­cher Dis­kurs über Wer­te gehört dazu. Oder wie Fritz Simon sagt: Man muss Wer­te haben, um sie zu rea­li­sie­ren.

Wie ich mit der oben ein­ge­bun­de­nen Gra­fik zei­gen möch­te, bedeu­tet Inte­gra­li­tät kei­ne Abkehr, Rück­nah­me oder Umkeh­rung von Agi­li­tät oder Effi­zi­enz­den­ken. Viel­mehr baut Inte­gra­li­tät dar­auf auf und soll­te sie als Basis zu nut­zen ler­nen.

Kapi­ta­lis­mus ist auch ein Wer­te­sys­tem. In inte­gra­len Model­len ist der Kapi­ta­lis­mus auf der ers­ten Ord­nungs­ebe­ne zu ver­or­ten (in Spi­ral Dyna­mics bspw. oran­ge und benach­bar­te Ebe­nen). Viel­leicht ergibt sich durch die sich wei­ter ent­wi­ckeln­de zwei­te Ord­nungs­ebe­ne ein Update hin zu einem inte­gra­len Kapi­ta­lis­mus, bei dem es viel­leicht wei­ter­hin Besitz gibt, glo­ba­le und gesell­schaft­li­che Res­sour­cen wie die Atmo­sphä­re, Was­ser, Boden­schät­ze und Daten aber nicht frei aus­beut­bar sind, son­dern in einem sys­te­misch-inte­gra­len Wer­te­sys­tem nutz­bar wer­den.

Bernd Oes­te­reich

(Titel­fo­to: Von Gajus, Shut­ter­stock 200797052)

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