In der Produkt- und Organisationsentwicklung ist Agilität das Schlagwort der Zeit, ein populäres Mittel, den Taylorismus zu transformieren und ein Turbo für den Kapitalismus. Angesichts der den Planeten bedrohenden Katastrophen dämmern uns jedoch allmählich die gesellschaftlich weitgehend unkontrollierten Auswirkungen des Kapitalismus. Um diese einzudämmen oder zu handhaben, reicht Agilität alleine nicht aus, sondern ist um Integralität zu ergänzen.
Vor dem Taylorismus war unsere Ökonomie vor allem geprägt durch die regionale Handwerkskunst, deren Ziel die Effektivität war. Es galt, nützliche Produkte und Dienstleistungen für die lokale Gesellschaft herzustellen. Mit dem Taylorismus rückten die Produktivität und Effizienz in den Vordergrund, um so viele Produkte wie möglich günstig für die Masse anzubieten. Die Automatisierung und Standardisierung von Abläufen und Produkten entfaltete ihre Wirkung in globalen Zusammenhängen.
Diese Zusammenhänge wurden immer komplexer und die kausalen Denk- und Handlungsmuster dieser Zeit versagten zunehmend. In den 1990er Jahren entwickelte sich als Antwort darauf die Agilität, die sich in den letzten 20 Jahren, beginnend in der Softwareindustrie, stark verbreitete. Die Kombination von hoher Effektivität, hoher Effizienz und wachsender Agilität ermöglichte der Menschheit eine extreme technologische und ökonomische Entwicklung. Unser Umgang damit und die uns hierbei bislang leitenden Denkstrukturen werden dieser Entwicklung aber nicht gerecht.
So wie es die Agilität bedurfte, um die komplexen und dynamischen Zusammenhänge handhaben zu können, so benötigen wir nun die Integralität (so nenne ich dies in Analogie zur Agilität einfach mal), um die entfesselte ökonomische Macht verantworten und kontrollieren zu können. Bereits der Wechsel von der Manufaktur zum Taylorismus erforderte ein grundsätzliches Umdenken. Und so, wie die Agilität im Kern ein Wechsel unserer Denkstrukturen (Mindsets, mentale Modelle) darstellte, so geht es bei der Entwicklung zur Integralität auch wieder genau darum.
Die Methoden und Werkzeuge der Agilität berücksichtigen bereits systemtheoretische und systemische Prinzipien – ihr Anwendungsbereich bleibt dort aber beschränkt auf die unmittelbaren Zusammenhänge der ökonomischen Akteure. Agilität ermöglicht es uns, Produkte in einem dynamischen Kontext zu entwickeln, in dem zu Beginn noch nicht einmal das Produkt und der Markt klar oder stabil oder vorhersehbar sein müssen. Der gedankliche Rahmen bleibt aber weitgehend beschränkt auf die Ökonomie, das ökonomische System. Die gesellschaftlichen und planetaren Wechselwirkungen (von prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zum Klimakollaps) bleiben außen vor.
In den gesellschaftlichen und zunehmend auch in politischen Systemen wächst die Einsicht in die globale Bedrohung, die vom freilaufenden ökonomischen System ausgeht. Noch können ökonomische Akteure (Unternehmen) die planetaren und gesellschaftlichen Ressourcen (Atmosphäre, Wasser, Bodenschätze, Daten) weitgehend ungehindert verbrauchen und ausbeuten. Emissionshandel, CO2-Bepreisung, Datenschutzregeln und ähnliches sind erste Ansätze, die darauf hindeuten, dass die gesellschaftlichen und politischen Systeme zu ihrem eigenen Überleben dem ökonomischen System einen stärkeren Rahmen setzen könnten. Meine These: Da der diesbezügliche Druck weiter steigt und anders als bei Taylorismus und Agilität nun auch zivilisatorisch existenziell ist, wird Integralität unvermeidlich an Bedeutung gewinnen.
Integralität geht über Agilität hinaus
Integralität geht jedoch über systemtheoretische und systemische Aspekte der Agilität hinaus, weil es systemische Wechselwirkungen nicht nur aus der Perspektive und zum Nutzen eines handelnden Subjektes berücksichtigt, sondern in der Annahme einer Allverbundenheit das Handeln einzelner Subjekte im Hinblick auf das Gesamtwohl im Fokus hat. Das ist neu und wird selbst im kollektivistischen China unter dem Begriff Tianxia neu diskutiert. Und es entspricht dem typischen Entwicklungspfad integraler Modelle wie bspw. Spiral Dynamics, in denen sich mit jedem Ebenenwechsel auch der Fokus zwischen Einzelheit und Gesamtheit verschiebt.
Da das ökonomische System nur ein Teil dieser Gesamtheit ist, wird die Ökonomie sich dahingehend anpassen müssen, dass sie in einen größeren Rahmen eingebettet und somit mehr reglementiert werden wird. Hinzu kommt, dass in dieser neuen Komplexität immer mehr Paradoxien sichtbar werden, die es zu handhaben gilt (hier muss ich an die Quantenphysik denken, die seinerzeit aus ähnlichen Gründen notwendig wurde).
Vermutlich werden dabei Werte relevant werden. Wikipedia definiert: Wertvorstellungen oder kurz Werte bezeichnen im allgemeinen Sprachgebrauch als erstrebenswert oder moralisch gut betrachtete Eigenschaften bzw. Qualitäten, die Objekten, Ideen, praktischen bzw. sittlichen Idealen, Sachverhalten, Handlungsmustern, Charaktereigenschaften oder auch Gütern beigemessen werden.
Für rein ökonomisch orientierte Systemtheoretiker sind Werte und Moral möglicherweise ebenso wenig anschlussfähige Konzepte wie für neoliberale Ökonomen. Wir sollten uns hier nicht beirren lassen und stattdessen weiterhin die Entwicklungsstufe der Integralität kraftvoll und kreativ ausgestalten. Ein gesellschaftlicher Diskurs über Werte gehört dazu. Oder wie Fritz Simon sagt: Man muss Werte haben, um sie zu realisieren.
Wie ich mit der oben eingebundenen Grafik zeigen möchte, bedeutet Integralität keine Abkehr, Rücknahme oder Umkehrung von Agilität oder Effizienzdenken. Vielmehr baut Integralität darauf auf und sollte sie als Basis zu nutzen lernen.
Kapitalismus ist auch ein Wertesystem. In integralen Modellen ist der Kapitalismus auf der ersten Ordnungsebene zu verorten (in Spiral Dynamics bspw. orange und benachbarte Ebenen). Vielleicht ergibt sich durch die sich weiter entwickelnde zweite Ordnungsebene ein Update hin zu einem integralen Kapitalismus, bei dem es vielleicht weiterhin Besitz gibt, globale und gesellschaftliche Ressourcen wie die Atmosphäre, Wasser, Bodenschätze und Daten aber nicht frei ausbeutbar sind, sondern in einem systemisch-integralen Wertesystem nutzbar werden.
Bernd Oestereich
(Titelfoto: Von Gajus, Shutterstock 200797052)