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Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
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Bernd Oestereich Claudia Schröder

Claudia Schröder und Bernd Oestereich verstehen sich als Unternehmerinnen und Pionierinnen für kollegial geführte Organisationen, die nach Erfahrungen in eigenen Unternehmen viele andere Unternehmerinnen und Unternehmer mit ihrem Wissen inspirieren konnten.
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Blog­se­rie Bau­stei­ne agi­ler OE (Teil 3): Kol­le­gi­al ver­teil­te und zie­hen­de Füh­rung

Im drit­ten Teil unse­rer Blog­se­rie zu den wich­tigs­ten Bau­stei­nen agi­ler und kol­le­gi­al geführ­ter Orga­ni­sa­tio­nen und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lun­gen geht es um das Sog­prin­zip (Pull-Prin­zip) und dyna­misch ver­teil­te Füh­rungs­ar­beit.

Kol­le­gia­le Füh­rung ist die von vie­len Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen nach dem Sog­prin­zip (Pull-Prin­zip) dyna­misch und dezen­tral über­nom­me­ne Füh­rungs­ar­beit an Stel­le von zen­tra­li­sier­ter Füh­rung durch vor­ge­setz­te exklu­si­ve Füh­rungs­kräf­te nach dem Schub­prin­zip (Push-Prin­zip).

Im Kon­text kol­le­gia­ler Füh­rung ver­ste­hen wir Füh­rung nicht als exklu­si­ve Tätig­keit von Füh­rungs­kräf­ten, bei der Arbeit und Ent­schei­dun­gen per Anwei­sung oder Ziel­ver­ein­ba­rung ver­teilt wer­den. Statt­des­sen ver­wen­den wir den Begriff Füh­rungs­ar­beit, um zu beto­nen, dass Füh­rung ein selbst­ver­ständ­li­cher und inte­gra­ler Teil der Arbeit einer jeden Kol­le­gin sein kann.

Füh­rung ist not­wen­dig, auch hier­ar­chi­sche Füh­rung. Aber wer wann wel­che Füh­rungs­ar­beit über­nimmt, hängt eben auch davon ab, wer dafür gera­de ver­füg­bar ist, pas­send ist und über aus­rei­chend Wis­sen, Kön­nen, Ver­trau­en und Inter­es­se ver­fügt.

Für vor­her­seh­ba­re und regel­mä­ßig wie­der­keh­ren­de Füh­rungs­ar­beit und Ent­schei­dun­gen, wer­den Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che in Form von Rol­len oder Krei­sen kre­iert und deren Rol­len­in­ha­ber wer­den regel­mä­ßig von der Kol­le­gen­schaft neu bestimmt.

Für spon­tan ent­ste­hen­de Ent­schei­dungs­be­dar­fe und Anlie­gen las­sen sich inter­es­sier­te Kol­le­gin­nen fall­wei­se von der Kol­le­gen­schaft ermäch­ti­gen. Wenn die Ver­trau­ens­kul­tur es zulässt oder die Situa­ti­on es erfor­dert, ermäch­ti­gen sich die Kol­le­gen mög­li­cher­wei­se auch selbst auf der Basis gemein­sa­mer ver­ab­re­de­ter Wer­te und Prin­zi­pi­en. Und für (Führungs-)Arbeit, die kei­ner über­neh­men möch­te, die aber wich­tig ist, gibt es eben­falls ein­fa­che Prin­zi­pi­en zur Hand­ha­bung, die wir hier aus Platz­grün­den nicht ver­tie­fen.

Nicht nur Ent­schei­dungs- und Füh­rungs­be­dar­fe, son­dern Span­nun­gen und Anlie­gen jeder Art, deren Ver­ant­wor­tung noch offen ist, wer­den in die gemein­sa­me Auf­merk­sam­keit gebracht und dann wird abge­war­tet, wer sie sich zieht oder ob sie viel­leicht doch gera­de nicht so wich­tig sind.

Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung als mit­lau­fen­de Meta­füh­rung

Wir wen­den also par­al­lel zwei unter­schied­li­che Prin­zi­pi­en an: Was vor­her­seh­bar ist, wird vor­ab ver­teilt und in Rol­len, Struk­tu­ren und Pro­zes­sen ver­an­kert. Das Unvor­her­seh­ba­re wird mit Hil­fe fes­ter Meta­pro­zes­se fall­wei­se aus­ge­han­delt. Da wir bei­de Prin­zi­pi­en sowohl für die ope­ra­tiv-inhalt­li­che (Arbeit im Sys­tem) als auch für die orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne (Arbeit am Sys­tem) anwen­den, und die­se auch pro­zes­su­al gar nicht tren­nen müs­sen, wird Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung ein­fach zum Bestand­teil einer kon­ti­nu­ier­lich mit­lau­fen­den Meta­füh­rung.

Wenn eine gro­ße Men­ge von Men­schen koope­rie­ren möch­te, braucht sie auch hier­ar­chi­sche Struk­tu­ren. Der Unter­schied einer kol­le­gia­len Füh­rung gegen­über einer Füh­rung mit fes­ten Füh­rungs­kräf­ten in einer Lini­en­or­ga­ni­sa­ti­on besteht dar­in, dass die Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che von den Betei­lig­ten selbst wei­ter­ent­wi­ckelt und neu aus­ge­han­delt wer­den kön­nen.

Zie­hen­de Ent­wick­lung (Sog­prin­zip): Ver­ant­wor­tung durch Unter­druck pro­vo­zie­ren

Vie­le Ent­wick­lungs­pro­zes­se basie­ren auf dem Druck­prin­zip (Push-Prin­zip), bei dem die Ent­schei­dung, was als Nächs­tes getan wer­den soll, von einer ande­ren Per­son oder Rol­le aus­ge­übt wird, als die, die dies umzu­set­zen hat: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Die mit der Umset­zung betrau­ten Per­so­nen bekom­men dadurch regel­mä­ßig mehr Arbeit auf­ge­drückt, als sie unmit­tel­bar leis­ten kön­nen. An den Eng­päs­sen ent­steht ein Über­druck.

Weil Denken/Entscheiden und Handeln/Umsetzen bei die­ser Vor­ge­hens­wei­se getrennt sind, kommt es sys­te­ma­tisch zu Ver­ant­wor­tungs­ver­lus­ten. Die Umset­zer füh­len sich allen­falls ver­ant­wort­lich für ihr unmit­tel­ba­res Ergeb­nis, nicht aber für deren Bedeu­tung in über­ge­ord­ne­ten Kon­tex­ten. Und die Füh­rungs­kräf­te sind zwar hier­ar­chisch ver­ant­wort­lich für ihre Ent­schei­dun­gen, ver­su­chen aber den­noch regel­mä­ßig, die­se den umset­zen­den Per­so­nen zuzu­schrei­ben.

Auf­ga­ben kön­nen ver­teilt und ande­ren zuge­teilt wer­den. Ver­ant­wor­tung kann jedoch nur genom­men wer­den. Wer ver­sucht, ande­ren Ver­ant­wor­tung zuzu­schie­ben, bleibt nichts­des­to­trotz solan­ge in der Ver­ant­wor­tung, bis der Emp­fän­ger ent­schie­den hat, die­se zu über­neh­men. Jede Füh­rungs­kraft kann ein Lied davon sin­gen. Füh­rungs­kräf­te bekla­gen sich dann, dass ihre Mit­ar­bei­ter kei­ne Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Die­se Kla­gen und Ermah­nun­gen blei­ben ein­fach nur Appel­le. Die Über­tra­gung von Ver­ant­wor­tung ist eine Ver­ein­ba­rung und geht nicht ohne oder gegen die Bereit­schaft des Emp­fän­gers.

Das Sog­prin­zip hin­ge­gen basiert auf der Ein­heit von Den­ken und Han­deln bzw. von Ent­schei­den und Umset­zen. Die umset­zen­de Rol­le ent­schei­det. Sie nimmt sich neue Arbeit, sobald sie hier­für wie­der Kapa­zi­tät hat. Dabei stellt sie ihre Arbeits­er­geb­nis­se wie­der­um nach­fol­gen­den Arbeits­schrit­ten zur Wei­ter­be­ar­bei­tung bereit. Kan­ban ist das Mus­ter­bei­spiel für das Sog­prin­zip (Pull-Prin­zip). Hier wird der Arbeits­fluss vom Ende zum Anfang betrach­tet.

Die Arbeit ruft

Ein Sog ent­steht durch einen Unter­druck. Hier wird die Ver­ant­wor­tung nicht ver­teilt oder jeman­den zuge­scho­ben. Statt­des­sen gera­ten Mög­lich­kei­ten für Arbeit und Ver­ant­wor­tung in die Auf­merk­sam­keit einer Per­son, die sich dann ent­schei­den kann, sie zu über­neh­men. Die Arbeit ruft. Je mehr sie ruft, des­to stär­ker wird der Unter­druck und des­to schwie­ri­ger wird es für die Per­so­nen, die dies wahr­neh­men und füh­len, sich dem zu ent­zie­hen.

Des­we­gen ist es so wich­tig, dass Arbeit mög­lichst nicht ver­mit­telt wird, son­dern unmit­tel­bar bei den pas­sen­den Per­so­nen wahr­nehm­bar wird. Ein Mit­ar­bei­ter, der eine Kun­den­re­kla­ma­ti­on unmit­tel­bar vom Kun­den erfährt, kann sich der Betrof­fen­heit, also dem Sog, kaum ent­zie­hen. Eine abs­trak­te Anzei­ge am Arbeits­ort über die aktu­el­le Rekla­ma­ti­ons­quo­te erzeugt kei­ne ver­gleich­ba­re kör­per­li­che Reak­ti­on.

Das Sog­prin­zip ist ele­men­tar, unver­zicht­bar und uner­setz­lich für eine agi­le Orga­ni­sa­ti­on. Kann es nicht durch geeig­ne­te Struk­tu­ren und Pro­zes­se umge­setzt wer­den, wird es zu kei­ner pro­ak­ti­ven Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on kom­men.

Viel­fäl­ti­ge Ent­wick­lung

Bereits durch das Prin­zip der ver­suchs­wei­sen Ent­wick­lung wird eine gewis­se Viel­falt in den Ent­wick­lun­gen geför­dert. Statt lan­ge zu über­le­gen, zu pla­nen und zu kal­ku­lie­ren, pro­biert eine agi­le Orga­ni­sa­ti­on in einem begrenz­ten Rah­men Mög­lich­kei­ten aus und ent­schei­det erst dann, was erhal­ten oder aus­ge­baut wer­den soll. Die Ent­schei­dungs­schwel­le ist nied­ri­ger, weil die Kon­se­quen­zen zunächst begrenz­ter sind. Es reicht dann, wenn eine Idee gut genug zum Aus­pro­bie­ren ist und Inves­ti­ti­on und Risi­ken ver­kraft­bar sind.

In einem kom­ple­xen Umfeld, in dem nicht sicher, umfas­send oder recht­zei­tig genug bestimmt wer­den kann, wel­che Ver­än­de­rung die pas­sen­de ist, erhöht eine höhe­re Viel­falt in den Expe­ri­men­ten die Wahr­schein­lich­keit, bedeut­sa­me Ent­wick­lun­gen zu fin­den.

Ein geziel­ter Aus­tausch ver­schie­de­ner Orga­ni­sa­ti­ons­ein­hei­ten über ihre jewei­li­gen Erfah­run­gen mit unter­schied­li­chen Her­an­ge­hens­wei­sen und Lösun­gen ist nütz­lich. Bei­spiels­wei­se pro­biert ein Kreis oder Geschäfts­be­reich eine ande­re Wei­se der Per­so­nal­aus­wahl oder Schicht­pla­nung aus, als ein oder zwei ande­re. Am Ende der Erpro­bungs­pha­se reflek­tiert und bewer­tet jeder Kreis sei­ne Erfah­run­gen, stellt sie den ande­ren vor und ermög­licht so eine qua­li­fi­zier­te­re Ent­schei­dung, Ände­rung oder gar die Kon­ver­genz zu einem gemein­sa­men Stan­dard.

Das Team- oder Com­pa­ny-Board (Füh­rungs­mo­ni­tor) als Werk­zeug kol­le­gia­ler Füh­rung

Ein Kan­ban-ähn­li­cher Füh­rungs­mo­ni­tor ist ein pas­sen­des Werk­zeug, um Füh­rungs­ar­beit dyna­misch zu ver­tei­len, gemein­sam zu ver­fol­gen und dabei gleich­zei­tig das Sog­prin­zip anzu­wen­den. Ein Füh­rungs­mo­ni­tor ist die kol­le­gia­le orga­ni­sier­te Ope­ra­tio­na­li­sie­rung des Prin­zips der kon­ti­nu­ier­lich mit­lau­fen­den Meta­füh­rung und einer kon­ti­nu­ier­li­chen agi­len Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung.

Aus­blick

Im nächs­ten (vier­ten) Teil die­ser Blog­se­rie wird es um das The­ma dia­lo­gi­sche Pro­zess­ent­wick­lung gehen.

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