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Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
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Bernd Oestereich

Impulsgeber für kollegial geführte Organi­sationen mit Erfahrung als Unternehmer seit 1998. Sprecher und Autor inter­national verlegter Bücher.
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Ist Agi­li­tät (agi­le Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung) am Ende?

Tran­skript

In den letz­ten Mona­ten hör­te ich immer mal wie­der die Fra­ge, ob Agi­li­tät jetzt am Ende sei. Oder geschei­tert. Weil es wohl bei eini­gen nicht funk­tio­niert hat und sie zurück wol­len. Oder weil eini­ge jetzt die nächs­te Sau haben, die sie durchs Dorf trei­ben kön­nen.

Mei­ne kur­ze Ant­wort dar­auf: Bull­shit! Hier riecht es ziem­lich nach Miss­ver­ständ­nis­sen.

Die­se Dis­kus­si­on ist für mich ein Déjà-vu: Wir hat­ten dies doch schon mal in den Nuller­jah­ren, zwi­schen 2000 – 2010. Da wur­den Scrum und agi­le SWE tot­ge­sagt und der Rück­schritt zum Was­ser­fall­mo­dell und kau­sa­lem PM ver­han­delt.

Was pas­sier­te tat­säch­lich? Agi­li­tät wur­de als Erfolgs­mo­dell dann auch außer­halb der Soft­ware­ent­wick­lung groß und für wei­te­re Anwen­dungs­be­rei­che adap­tiert.

ich möch­te ein wenig mehr aus­ho­len und vier Punk­te benen­nen:

ERSTENS: Ein Kern­prin­zip agi­ler OE und auch von KF ist das Sog­prin­zip.

Wer jetzt ernst­haft von Pull zu Push zurück­will oder von Füh­rung zu Manage­ment,
der erin­nert sich viel­leicht nicht mehr, wie und wo das Push-Prin­zip in kom­ple­xen Kon­tex­ten ver­sagt hat oder leug­net, das tra­di­tio­nel­le Füh­rungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en wei­ter­hin Teil des Pro­blem sind und nicht die Lösung.

Es hat Grün­de für neue Prin­zi­pi­en und die sind nicht weg! Macht doch mal die Augen auf.

ZWEITENS: Ich ken­ne auch vie­le Bei­spie­le, wo agi­le Trans­for­ma­tio­nen kon­tra­pro­duk­tiv oder erfolg­los waren.

Aber nur, weil dies mal nicht geklappt hat, müs­sen nicht die Werk­zeu­ge, Prin­zi­pi­en und Model­le schlecht sein. Es könn­te doch auch ein­fach an den Betei­lig­ten lie­gen, den Auf­trag­ge­ben­den oder ihren Coa­ches und Bera­ten­den.

War­um? Manch­mal passt der Anwen­dungs­fall ein­fach nicht. Dann braucht es kei­ne Agi­li­tät, weil das Pro­blem ein ganz ande­res ist. Bei­spiels­wei­se, wenn es eigent­lich nur um Effi­zi­enz­stei­ge­rung und mehr vom Glei­chen geht.

Viel­leicht war ein­fach die Auf­trags­klä­rung unge­nü­gend? Zu anstren­gend? Viel­leicht hät­te es etwas ande­res gebraucht – aber ihr woll­tet unbe­dingt so einen agi­len Auf­trag.

DRITTENS: Und ja, viel­leicht taug­ten auch die pro­bier­ten Werk­zeu­ge und Model­le tat­säch­lich nicht. Kann ja sein.

Nur weil da jemand agil rauf­ge­klebt hat, muss es da nicht drin sein.

Viel­leicht wur­de ein­fach irgend­wel­chen selbst­ge­fäl­li­gen Blen­dern ver­traut? Wo haben die ihr Hand­werk­zeugs gelernt? Ken­nen und Kön­nen sie Agi­li­tät aus eige­ner Erfah­rung?

Sagen wir mal so: Nur weil jemand ein paar Bücher über Agi­le Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung gele­sen hat und sich dafür begeis­tern kann, hat er noch lan­ge nicht das Kön­nen dazu. Und auch noch lan­ge kei­ne eige­ne agi­le Hal­tung – die näm­lich eige­ne Übung vor­aus­setzt.

Viel­leicht klapp­te es auch ein­fach des­we­gen nicht, weil gar nicht an Struk­tu­ren und Pro­zes­sen gear­bei­tet wur­de, son­dern psy­cho­lo­gi­sie­rend an Men­schen her­um­ge­dok­tert wur­de und man ihnen neue Hal­tun­gen und Ver­hal­tens­wei­sen ver­ord­nen woll­te – was noch nie rich­tig funk­tio­niert hat. 

Wir agi­le Exper­tin­nen müs­sen Hal­tung und Klar­heit zei­gen und im Zwei­fels­fall wider­stän­dig im Sin­ne der Orga­ni­sa­ti­on han­deln, statt unse­ren Kun­den nach dem Mund zu reden. 

Bevor ich noch wei­ter abschwei­fe:

VIERTENS: Ja, und manch­mal ist es echt nicht ein­fach. Natür­lich ken­nen wir auch Situa­tio­nen, wo man sich selbst kri­tisch hin­ter­fragt, weil es nicht so läuft wie vor­ge­stellt.

Aber: Habe ich viel­leicht auch zu viel ver­spro­chen oder zu hohe Erwar­tun­gen geweckt?

Vor allem aber: Die Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung muss eine Orga­ni­sa­ti­on selbst leis­ten.
Als Bera­ten­de und Coa­chen­de kön­nen wir Impul­se geben, Werk­zeu­ge pro­bie­ren las­sen, The­sen und Refle­xi­on anbie­ten. Aber wir haben kein Wun­der­mit­tel.

Und ja, man­che Orga­ni­sa­tio­nen, vor allem die ganz gro­ßen, haben ehr­lich gesagt auch wenig Chan­cen. Ihnen gelingt es oft gar nicht, die not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen oder eine ver­läss­li­che und ver­trau­ens­vol­le Lern­um­ge­bung zu schaf­fen. 

Die set­zen eine agi­le Trans­for­ma­ti­on mit völ­lig unagi­len Pro­jekt­plä­nen auf.
Die rufen dann nach der Check­lis­te, mit der sie bele­gen kön­nen, zu wie viel Pro­zent sie schon agil sind. Und selbst wenn sie um die­se Absur­di­tät wis­sen, zie­hen sie dann trotz­dem ihre “Trans­for­ma­tio­nen” durch, als wäre die Orga­ni­sa­ti­on eine Maschi­ne und kein sozia­les Sys­tem.

Agil vor­zu­ge­hen heißt doch, sich in klei­nen Schrit­ten erpro­bend zum Nütz­li­chen vor­zu­tas­ten. Und nicht, vor­her schon zu wis­sen, wie es aus­se­hen muss. Das ist doch gedan­ken­los, ver­irrt, ohne Demut der Her­aus­for­de­rung gegen­über.

Allei­ne schon die Fra­ge, ob Agi­li­tät geschei­tert ist, passt doch gar nicht zu agi­len Wer­ten und Prin­zi­pi­en. Und sagt etwas über die Per­son aus, die das äußert.

Die inter­es­san­te­ren Fra­gen lau­ten dann doch: Was hat sich geän­dert? Was genau ist bes­ser, schlech­ter, gleich­blei­bend? Was haben wir gelernt? Was war nütz­lich?

Es sind in der Essenz viel­leicht nur zwei Grund­prin­zi­pi­en um die es geht:

Zum einen: Gibt es ein funk­tio­nie­ren­de Lern­schlei­fen? Also konn­te die Orga­ni­sa­ti­on Pro­zes­se und Struk­tu­ren ent­wi­ckeln, ihre eige­nes Han­deln und Nicht­han­deln kri­tisch zu reflek­tie­ren und dar­aus zu ler­nen? Und zwar selb­stän­dig, ohne vor­ge­setz­te Füh­rungs­kräf­te oder exter­ne Impul­se.

Zum ande­ren: Wird aufs Sog­prin­zip umge­stellt? Statt mit Druck Anwei­sun­gen und Arbeit zu ver­tei­len, wer­den dann zu lösen­de Pro­ble­me fühl­bar und es wer­den Rah­men­be­din­gun­gen geschaf­fen, dass sich die Men­schen in Orga­ni­sa­tio­nen Pro­ble­me zie­hen und eigen­ver­ant­wort­lich lösen.

Die meis­ten Werk­zeu­ge und For­ma­te in unse­rem agi­len Werk­zeug­kas­ten zah­len auf die­se bei­de Grund­prin­zi­pi­en ein: 

Retro­spek­ti­ven, Ite­ra­tio­nen, Kom­mu­ni­ka­ti­ve Grund­fer­tig­kei­ten, Kan­ban-Struk­tu­ren, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­rol­len etc. sind alles Werk­zeu­ge, um Lern­schlei­fen auf­zu­bau­en.

Und Kol­le­gia­le Ent­schei­dungs- und Gesprächs­for­ma­te, Kreis-Struk­tu­ren, Hand­lungs­rah­men, Kan­ban-Struk­tu­ren, Rol­len­ba­sier­tes Arbei­ten etc. füh­ren zum Sog­prin­zip. 

Ich kom­me mal zum Ende:

Die Welt ist in den letz­ten 10 Jah­ren mega­kom­plex gewor­den. Die Pro­ble­me für die Agi­li­tät eine Lösung ist, haben sich poten­ziert.

Agi­li­tät soll am Ende sein? Ja, habt ihr denn eine bes­se­re Idee? Es gibt kein zurück. Es geht nicht um einen Ersatz für Agi­li­tät, nur weil die Welt und agi­le Prin­zi­pi­en anspruchs­vol­ler sind, als man es sich wünscht.

Agi­le, sys­te­mi­sche, sys­tem­theo­re­ti­sche und kol­le­gi­al geführ­te Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung sind immer noch pas­send und das bes­te was wir hier aktu­ell haben.

Agi­le Prin­zi­pi­en und Werk­zeu­ge wer­den wei­ter­hin ihren Weg in die Orga­ni­sa­tio­nen neh­men. Lasst uns ein­fach wei­ter­hin dar­an arbei­ten, dass dies noch bes­ser gelingt.

Und lasst uns dar­an arbei­ten, was es ange­sichts der Poly­kri­sen dar­über hin­aus noch braucht.

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