Transkript
In den letzten Monaten hörte ich immer mal wieder die Frage, ob Agilität jetzt am Ende sei. Oder gescheitert. Weil es wohl bei einigen nicht funktioniert hat und sie zurück wollen. Oder weil einige jetzt die nächste Sau haben, die sie durchs Dorf treiben können.
Meine kurze Antwort darauf: Bullshit! Hier riecht es ziemlich nach Missverständnissen.
Diese Diskussion ist für mich ein Déjà-vu: Wir hatten dies doch schon mal in den Nullerjahren, zwischen 2000 – 2010. Da wurden Scrum und agile SWE totgesagt und der Rückschritt zum Wasserfallmodell und kausalem PM verhandelt.
Was passierte tatsächlich? Agilität wurde als Erfolgsmodell dann auch außerhalb der Softwareentwicklung groß und für weitere Anwendungsbereiche adaptiert.
ich möchte ein wenig mehr ausholen und vier Punkte benennen:
ERSTENS: Ein Kernprinzip agiler OE und auch von KF ist das Sogprinzip.
Wer jetzt ernsthaft von Pull zu Push zurückwill oder von Führung zu Management,
der erinnert sich vielleicht nicht mehr, wie und wo das Push-Prinzip in komplexen Kontexten versagt hat oder leugnet, das traditionelle Führungs- und Organisationsprinzipien weiterhin Teil des Problem sind und nicht die Lösung.
Es hat Gründe für neue Prinzipien und die sind nicht weg! Macht doch mal die Augen auf.
ZWEITENS: Ich kenne auch viele Beispiele, wo agile Transformationen kontraproduktiv oder erfolglos waren.
Aber nur, weil dies mal nicht geklappt hat, müssen nicht die Werkzeuge, Prinzipien und Modelle schlecht sein. Es könnte doch auch einfach an den Beteiligten liegen, den Auftraggebenden oder ihren Coaches und Beratenden.
Warum? Manchmal passt der Anwendungsfall einfach nicht. Dann braucht es keine Agilität, weil das Problem ein ganz anderes ist. Beispielsweise, wenn es eigentlich nur um Effizienzsteigerung und mehr vom Gleichen geht.
Vielleicht war einfach die Auftragsklärung ungenügend? Zu anstrengend? Vielleicht hätte es etwas anderes gebraucht – aber ihr wolltet unbedingt so einen agilen Auftrag.
DRITTENS: Und ja, vielleicht taugten auch die probierten Werkzeuge und Modelle tatsächlich nicht. Kann ja sein.
Nur weil da jemand agil raufgeklebt hat, muss es da nicht drin sein.
Vielleicht wurde einfach irgendwelchen selbstgefälligen Blendern vertraut? Wo haben die ihr Handwerkzeugs gelernt? Kennen und Können sie Agilität aus eigener Erfahrung?
Sagen wir mal so: Nur weil jemand ein paar Bücher über Agile Organisationsentwicklung gelesen hat und sich dafür begeistern kann, hat er noch lange nicht das Können dazu. Und auch noch lange keine eigene agile Haltung – die nämlich eigene Übung voraussetzt.
Vielleicht klappte es auch einfach deswegen nicht, weil gar nicht an Strukturen und Prozessen gearbeitet wurde, sondern psychologisierend an Menschen herumgedoktert wurde und man ihnen neue Haltungen und Verhaltensweisen verordnen wollte – was noch nie richtig funktioniert hat.
Wir agile Expertinnen müssen Haltung und Klarheit zeigen und im Zweifelsfall widerständig im Sinne der Organisation handeln, statt unseren Kunden nach dem Mund zu reden.
Bevor ich noch weiter abschweife:
VIERTENS: Ja, und manchmal ist es echt nicht einfach. Natürlich kennen wir auch Situationen, wo man sich selbst kritisch hinterfragt, weil es nicht so läuft wie vorgestellt.
Aber: Habe ich vielleicht auch zu viel versprochen oder zu hohe Erwartungen geweckt?
Vor allem aber: Die Organisationsentwicklung muss eine Organisation selbst leisten.
Als Beratende und Coachende können wir Impulse geben, Werkzeuge probieren lassen, Thesen und Reflexion anbieten. Aber wir haben kein Wundermittel.
Und ja, manche Organisationen, vor allem die ganz großen, haben ehrlich gesagt auch wenig Chancen. Ihnen gelingt es oft gar nicht, die notwendigen Rahmenbedingungen oder eine verlässliche und vertrauensvolle Lernumgebung zu schaffen.
Die setzen eine agile Transformation mit völlig unagilen Projektplänen auf.
Die rufen dann nach der Checkliste, mit der sie belegen können, zu wie viel Prozent sie schon agil sind. Und selbst wenn sie um diese Absurdität wissen, ziehen sie dann trotzdem ihre “Transformationen” durch, als wäre die Organisation eine Maschine und kein soziales System.
Agil vorzugehen heißt doch, sich in kleinen Schritten erprobend zum Nützlichen vorzutasten. Und nicht, vorher schon zu wissen, wie es aussehen muss. Das ist doch gedankenlos, verirrt, ohne Demut der Herausforderung gegenüber.
Alleine schon die Frage, ob Agilität gescheitert ist, passt doch gar nicht zu agilen Werten und Prinzipien. Und sagt etwas über die Person aus, die das äußert.
Die interessanteren Fragen lauten dann doch: Was hat sich geändert? Was genau ist besser, schlechter, gleichbleibend? Was haben wir gelernt? Was war nützlich?
Es sind in der Essenz vielleicht nur zwei Grundprinzipien um die es geht:
Zum einen: Gibt es ein funktionierende Lernschleifen? Also konnte die Organisation Prozesse und Strukturen entwickeln, ihre eigenes Handeln und Nichthandeln kritisch zu reflektieren und daraus zu lernen? Und zwar selbständig, ohne vorgesetzte Führungskräfte oder externe Impulse.
Zum anderen: Wird aufs Sogprinzip umgestellt? Statt mit Druck Anweisungen und Arbeit zu verteilen, werden dann zu lösende Probleme fühlbar und es werden Rahmenbedingungen geschaffen, dass sich die Menschen in Organisationen Probleme ziehen und eigenverantwortlich lösen.
Die meisten Werkzeuge und Formate in unserem agilen Werkzeugkasten zahlen auf diese beide Grundprinzipien ein:
Retrospektiven, Iterationen, Kommunikative Grundfertigkeiten, Kanban-Strukturen, Selbstorganisationsrollen etc. sind alles Werkzeuge, um Lernschleifen aufzubauen.
Und Kollegiale Entscheidungs- und Gesprächsformate, Kreis-Strukturen, Handlungsrahmen, Kanban-Strukturen, Rollenbasiertes Arbeiten etc. führen zum Sogprinzip.
Ich komme mal zum Ende:
Die Welt ist in den letzten 10 Jahren megakomplex geworden. Die Probleme für die Agilität eine Lösung ist, haben sich potenziert.
Agilität soll am Ende sein? Ja, habt ihr denn eine bessere Idee? Es gibt kein zurück. Es geht nicht um einen Ersatz für Agilität, nur weil die Welt und agile Prinzipien anspruchsvoller sind, als man es sich wünscht.
Agile, systemische, systemtheoretische und kollegial geführte Organisationsentwicklung sind immer noch passend und das beste was wir hier aktuell haben.
Agile Prinzipien und Werkzeuge werden weiterhin ihren Weg in die Organisationen nehmen. Lasst uns einfach weiterhin daran arbeiten, dass dies noch besser gelingt.
Und lasst uns daran arbeiten, was es angesichts der Polykrisen darüber hinaus noch braucht.