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Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
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Bernd Oestereich

Impulsgeber für kollegial geführte Organi­sationen mit Erfahrung als Unternehmer seit 1998. Sprecher und Autor inter­national verlegter Bücher.
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Wie führt man Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en in Unter­neh­men ein (Teil 2)?

Der ers­te Teil die­ses Bei­tra­ges fokus­sier­te auf die Vor­aus­set­zun­gen und Rah­men­be­din­gun­gen. In die­sem zwei­ten Teil möch­te ich auf die typi­schen Pha­sen des Über­gan­ges bei der Umstel­lung auf kol­le­gia­le Füh­rung ein­ge­hen. Vor allem auf die Vor­be­rei­tungs­pha­se, in der die Inha­ber den grund­sätz­li­chen Rah­men abzu­ste­cken: Wel­che Mög­lich­kei­ten und Gren­zen, Rech­te und Pflich­ten räu­men die Inha­ber der kol­le­gia­len Füh­rung ein?

Über­blick

Das Über­gangs­mo­dell (sie­he Abbil­dung) zeigt die typi­schen vier Pha­sen für die Ein­füh­rung einer kol­le­gi­al geführ­ten Orga­ni­sa­ti­on:

  1. Vor­be­rei­tungs­pha­se
    Als ers­tes ist der grund­sätz­li­che Rah­men durch die Inha­ber abzu­ste­cken:
    Wel­che Mög­lich­kei­ten und Gren­zen, Rech­te und Pflich­ten räu­men die Inha­ber der kol­le­gia­len Füh­rung ein?
    Anschlie­ßend ist zu klä­ren (Kon­sent), was der Kol­le­gen­schaft ggf. fehlt, um die­se Rah­men­be­din­gun­gen zu akzep­tie­ren.
  2. Kon­zep­ti­ons­pha­se
    Als nächs­tes ist die­ser Rah­men initi­al aus­zu­fül­len und zu kon­kre­ti­sie­ren:
    Wie soll die Füh­rung ganz kon­kret orga­ni­siert sein? Initi­al heißt zu bestim­men, wie ange­fan­gen wird – danach wird sich die Füh­rung selbst­or­ga­ni­siert wei­ter­ent­wi­ckeln.
    Typi­scher­wei­se kon­zi­piert ein Über­gangs­team aus Ver­tre­tern der Inha­be­rin­nen, der bis­he­ri­gen Füh­rungs­kräf­te und inter­es­sier­ter Kol­le­gin­nen das neue, initia­le Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell, wobei wie­der­um abschlie­ßend geprüft wird, was die Kol­le­gen­schaft ins­ge­samt benö­tigt, um damit star­ten zu kön­nen.
  3. Ope­ra­ti­ve Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on
    Erst jetzt wird das alte Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell abge­löst, und alle gemein­sam erpro­ben ope­ra­tiv im gege­be­nen Rah­men das neue Modell.
    Ände­run­gen an dem Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell blei­ben über­gangs­wei­se noch dem Über­gangs­team vor­be­hal­ten.
  4. Orga­ni­sa­tio­na­le Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on
    Sobald alle Betei­lig­ten aus­rei­chend Erfah­run­gen mit dem neu­en Modell haben und bewei­sen konn­ten, damit wirt­schaft­lich und sozi­al eben­so erfolg­reich zu arbei­ten wie vor­her, kann die Kol­le­gen­schaft auch die orga­ni­sa­tio­na­le Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on über­neh­men, d.h. das Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell selbst auch kol­le­gi­al wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Erst dann ist die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on eta­bliert.

Die Far­ben der ein­zel­nen Pha­sen kor­re­spon­die­ren ganz bewusst mit denen aus dem Bei­trag Evo­lu­ti­on mensch­li­cher Orga­ni­sa­ti­ons­for­men – auf dem Weg zu Tür­kis.

Die vier Pha­sen beschrei­be ich nun aus­führ­li­cher, wobei die­ser Bei­trag die ers­te Vor­be­rei­tungs­pha­se (Moti­va­ti­on und Rah­men­be­din­gun­gen der Inha­ber klä­ren) beinhal­tet und ich die wei­te­ren Pha­sen in noch fol­gen­den Blog-Bei­trä­gen ver­tie­fe.

Transitionsphasen
Das Über­gangs­mo­dell zeigt die typi­schen Pha­sen für die Ein­füh­rung einer kol­le­gi­al geführ­ten Orga­ni­sa­ti­on. http://kollegiale-fuehrung.de/transition-phasenmodell/

Vor­be­rei­tungs­pha­se: Moti­va­ti­on und Rah­men­be­din­gun­gen der Inha­ber klä­ren

Bevor eine kol­le­gia­le Füh­rung in einem Unter­neh­men ein­ge­führt und der Über­gang (auch Tran­si­ti­on genannt) dort­hin gestar­tet wird, hat die obers­te Füh­rung des Unter­neh­mens die Auf­ga­ben,

  • zu klä­ren und zu ver­mit­teln, war­um eine Tran­si­ti­on sinn­voll ist,
  • die neu­en Füh­rungs­prin­zi­pi­en selbst zu ver­ste­hen, um die Bedeu­tung ein­schät­zen zu kön­nen,
  • und den Rah­men abzu­ste­cken, was künf­tig kol­le­gi­al gestalt­bar sein soll und was nicht oder ab wann.

War­um über­haupt?

Der Wunsch der Inha­ber und Geschäfts­füh­rer nach einem Über­gang zu einem kol­le­gia­len Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell wird bei der Kol­le­gen­schaft sofort Fra­gen nach den Grün­den aus­lö­sen. Des­halb soll­ten die Inha­ber zuerst ihre Moti­va­ti­on ergrün­den. Dabei wer­den die ein­zel­nen Inha­be­rin­nen und Geschäfts­füh­re­rin­nen einer­seits sehr indi­vi­du­el­le und meis­tens auch per­sön­li­che Grün­de haben, ande­rer­seits auch Gemein­sam­kei­ten ent­de­cken.

Neben den vie­len sach­li­chen und zumeist abs­trakt klin­gen­den Grün­den für eine Umstel­lung (Zukunfts­fä­hig­keit des Unter­neh­mens sichern usw.) ach­ten die Mit­ar­bei­te­rin­nen meis­tens sehr auf­merk­sam auf die per­sön­li­chen Grün­de.

Aus­schließ­lich Ratio­na­li­sie­run­gen anzu­bie­ten, wird vie­le Kol­le­gen nicht befrie­di­gen. Des­we­gen soll­ten Inha­ber in sich hin­ein­spü­ren, was sie hier­zu antreibt und wel­che Hoff­nun­gen und Sor­gen sie lei­tet. Die­se Gefüh­le soll­ten den Mit­ar­bei­tern eben­so zuge­mu­tet wer­den, wie die sach­li­chen und ratio­na­len Grün­de.

Sys­te­mi­sche Ein­zel- und Grup­pen-Coa­chings der Inha­ber und Geschäfts­füh­rer sind ein mög­li­ches unter­stüt­zen­des Mit­tel, die not­wen­di­ge Klar­heit zu gewin­nen und ver­ständ­lich kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen. Manch­mal hel­fen auch ein paar Tage Klos­ter­auf­ent­halt, wie Bodo Jans­sen (Inha­ber der Hotel­ket­te Ups­tals­boom) berich­tet [Janssen2016].

Übli­cher­wei­se kön­nen nicht alle Grün­de von den Mit­ar­bei­tern nach­voll­zo­gen wer­den, denn sie leben als Ange­stell­te in einem ande­ren sozia­len und wirt­schaft­li­chen Kon­text als ein Inha­ber – gera­de wenn es um die mög­li­che Last von Ver­ant­wor­tung geht. Auch wenn nicht alles von jedem ver­stan­den wer­den kann, so ist es völ­lig legi­tim, wenn sich Inha­ber mit all ihren Grün­den für ein neu­es Orga­ni­sa­ti­ons­mo­dell äußern.

So wie Ange­stell­te ihre indi­vi­du­el­len Inter­es­sen, Bedürf­nis­se oder ihre aktu­el­le Ver­fas­sung ihrem Arbeit­ge­ber zumu­ten, so dür­fen auch die spe­zi­fi­schen Bedürf­nis­se der Inha­ber Raum fin­den. Die Inter­es­sen der Gemein­schaft ste­hen dabei stets über den indi­vi­du­el­len. Ein­zel­be­dürf­nis­se dür­fen nicht das Gesamt­sys­tem domi­nie­ren – das gilt für Mit­ar­bei­te­rin­nen eben­so wie für Inha­be­rin­nen.

Nichts­des­to­trotz kön­nen die Kon­se­quen­zen höchst unter­schied­lich sein: Wenn ein Mit­ar­bei­ter sein Leben grund­sätz­lich ändern möch­te, kann er kün­di­gen; er ist weit­ge­hend für sich selbst ver­ant­wort­lich. Wenn ein Inha­ber-Geschäfts­füh­rer ent­schei­det, das Unter­neh­men zu ver­las­sen, kann das die Exis­tenz und Zukunfts­fä­hig­keit der Orga­ni­sa­ti­on ins­ge­samt bedro­hen und Unsi­cher­hei­ten für vie­le ande­re Men­schen aus­lö­sen. Für die Betrof­fe­nen ist es des­we­gen sehr rele­vant, die Grün­de der Inha­ber und Geschäfts­füh­rer zu ver­ste­hen.

Rah­men­be­din­gun­gen klä­ren

Not­wen­di­ge Rah­men­be­din­gun­gen las­sen sich sys­te­ma­tisch durch nega­ti­ves Den­ken gewin­nen: Was muss pas­sie­ren, dass die kol­le­gia­le Füh­rung schei­tert, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on nicht funk­tio­niert oder die Betei­lig­ten nicht mehr aus­rei­chend über­zeugt sind? Die Ant­wor­ten dar­auf füh­ren zu den Inhal­ten der Rah­men­be­din­gun­gen. Ansons­ten gilt: Was nicht ver­bo­ten ist, ist erlaubt.

Fol­gen­de Fra­gen haben die Inha­be­rin­nen zusam­men mit der Geschäfts­füh­rung zu beant­wor­ten:

  • Was soll kol­le­gi­al gestalt­bar sein und was nicht?
  • Wel­che Mög­lich­kei­ten und Gren­zen, Rech­te und Pflich­ten räu­men die Inha­ber der (Geschäfts-)führung ein? Was darf ent­schie­den wer­den? Was bedarf wel­cher Zustim­mung?
  • Wie kann das kol­le­gi­al Gestalt­ba­re von dem nicht Gestalt­ba­ren unter­schie­den wer­den? Wel­che Regeln, Kri­te­ri­en, Heu­ris­ti­ken, Zustän­dig­kei­ten, Prin­zi­pi­en, Wer­te und Ähn­li­ches sol­len hier­für gel­ten?

Bei­spiels­wei­se könn­ten der Erwerb und die Ver­äu­ße­rung von Unter­neh­mens­be­rei­chen, die Anmie­tung von Büro- oder Geschäfts­räu­men, ein Stand­ort­wech­sel, die Expan­si­on ins Aus­land oder Ver­trä­ge und Ver­pflich­tun­gen über € 100.000 nicht zum kol­le­gi­al Gestalt­ba­ren gehö­ren.

Viel­leicht müs­sen aber auch sol­che Ent­schei­dun­gen gar nicht kon­kret auf­ge­lis­tet wer­den, sofern die Inha­ber an ent­schei­den­den Stel­len (wie alle ande­ren Mit­ar­bei­ter auch) Veto­mög­lich­kei­ten haben, wenn bei­spiels­wei­se in einem obers­ten Füh­rungs­kreis im sozio­kra­ti­schen Kon­sent mit Veto­mög­lich­keit ent­schie­den wird und ein Ver­tre­ter der Inha­ber dort garan­tiert Mit­glied ist.

In der Abbil­dung ist der von den Inha­bern vor­ge­ge­be­ne Rah­men rot dar­ge­stellt. Die Erar­bei­tung die­ses Rah­men fällt in die Vor­be­rei­tungs­pha­se.

Abschluss­kon­sent der ers­ten Pha­se

Die ers­te Pha­se endet mit einem Kon­sent der betrof­fe­nen Kol­le­gen­schaft. Die Inha­ber stel­len die Rah­men­be­din­gun­gen bereit – aber passt der Rah­men auch für die Kol­le­gen­schaft, die die­sen nun aus­fül­len soll?

Des­we­gen sind die Rah­men­be­din­gun­gen gemein­sam zu beschlie­ßen.

Die Inha­ber arbei­ten sie aus. Es ist ihr Recht, die Rah­men­be­din­gun­gen fest­zu­le­gen. Aber so, wie sich ein ange­stell­ter Geschäfts­füh­rer ent­schei­den muss, ob er den Geschäfts­füh­rer­ver­trag mit den damit ver­bun­de­nen Rah­men­be­din­gun­gen unter­schreibt, so hat bei einer kol­le­gia­len geführ­ten Orga­ni­sa­ti­on die Kol­le­gen­schaft zu ent­schei­den, ob sie die Bedin­gun­gen akzep­tie­ren kann.

Ein sozio­kra­ti­scher Kon­sent mit Ein­wand­in­te­gra­ti­on ist ein auf­wen­di­ger, aber pro­ba­ter Weg. Er stellt durch pas­sen­de Mode­ra­ti­on sicher, dass alle Betei­lig­ten die Rah­men­be­din­gun­gen ver­stan­den haben, wich­ti­ge Fra­gen dazu geklärt und ggf. wei­te­re Ergän­zun­gen ver­ein­bart wer­den.

Die nächs­te Abbil­dung zeigt ein rea­les Bei­spiel. Die obe­re For­mu­lie­rung wur­de sei­tens der Geschäfts­füh­rung als Ent­schei­dungs­vor­schlag ein­ge­bracht. Nach ca. 20 Minu­ten Fra­gen­klä­rung und Ein­wand­in­te­gra­ti­on wur­den drei Ergän­zungs­punk­te ver­ein­bart. Schließ­lich wur­de die Ent­schei­dung ohne Vetos und ohne Ein­wän­de von allen akzep­tiert.

Konsent Abschluss Phase 1
Bei­spiel aus einem rea­len Kon­sent zum Abschluss der ers­ten Pha­se.

 

Was ist zu tun, wenn Vetos oder schwe­re Ein­wän­de bestehen blei­ben? In die­sem Fall gibt es min­des­tens die fol­gen­den Mög­lich­kei­ten:

  • Alles bleibt, wie es ist. Die Geschäfts­füh­rung respek­tiert, dass die Kol­le­gen­schaft unter die­sen Bedin­gun­gen sich nicht selbst orga­ni­sie­ren und füh­ren möch­te. Vor allem, wenn es deut­li­che Vor­be­hal­te vie­ler Kol­le­gen Ggf. wird zu einem spä­te­ren Zeit­punkt mit ande­ren Rah­men­be­din­gun­gen ein neu­er Ver­such gestar­tet.
  • Sofern nur sehr weni­ge Kol­le­gen ein Veto haben, alle ande­ren aber den Weg in die kol­le­gia­le Füh­rung gehen wol­len, besteht die Mög­lich­keit, die Veto­ge­ber bewusst (aus der Orga­ni­sa­ti­on) aus­zu­schlie­ßen. Sie hät­ten in die­sem Fall kein Stimm­recht mehr und die Orga­ni­sa­ti­on muss zusätz­lich zu der Umstel­lung auf eine kol­le­gia­le Orga­ni­sa­ti­on dann auch die für­sor­gen­de Ver­ant­wor­tung für den Kol­le­gen­aus­schluss über­neh­men.

Jede grö­ße­re stra­te­gi­sche oder orga­ni­sa­to­ri­sche Ver­än­de­rung in einem Unter­neh­men kann dazu füh­ren, dass dies für eini­ge Mit­ar­bei­ter nicht passt, eben­so wie ande­re sich viel­leicht genau dadurch ange­zo­gen füh­len. Die Zukunfts­fä­hig­keit der Orga­ni­sa­ti­on hat im Kon­flikt­fall stets Vor­rang vor den indi­vi­du­el­len Bedürf­nis­sen.

In Kür­ze set­ze ich die­se Serie fort mit den nächs­ten Pha­sen des Über­gangs­mo­dells.

Die­se Blog­se­rie ist übri­gens ein Aus­zug aus unse­rem im Herbst 2016 erschei­nen­den Buches “Das kol­le­gi­al geführ­te Unter­neh­men”.

 

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