Icon Werkstatt für Kollegiale Führung
Werkstatt für kollegiale Führung
Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
Über den Beitrag
Verfassende Person
Picture of Bernd Oestereich

Bernd Oestereich

Impulsgeber für kollegial geführte Organi­sationen mit Erfahrung als Unternehmer seit 1998. Sprecher und Autor inter­national verlegter Bücher.
Schlagwörter

Wie führt man Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en in Unter­neh­men ein?

Wie führt man Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en in Unter­neh­men ein? Mit die­ser Fra­ge war ich in den letz­ten Jah­ren und Mona­ten öfter kon­fron­tiert, wenn ich Unter­neh­mer und Unter­neh­men dabei beglei­te­te, Füh­rungs­prin­zi­pi­en umzu­stel­len. Dabei sind mir immer wie­der bestimm­te kri­ti­sche Situa­tio­nen und Phä­no­me­ne auf­ge­fal­len, die ich des­we­gen mal als typisch bezeich­nen möch­te und zu deren Ver­mei­dung oder Hand­ha­bung ich eine bestimm­te Vor­ge­hens­wei­se ent­wi­ckelt habe. Die­se möch­te ich als zwei­tei­li­gen Blog­bei­trag tei­len. Dies hier ist der ers­te Teil.

Den nach­fol­gen­den Text möch­te ich nicht als Anlei­tung (Rou­ten­plan), son­dern als Theo­rie (Land­kar­te) ver­stan­den wis­sen. Ich möch­te also nicht pau­schal dazu auf­for­dern, genau­so vor­zu­ge­hen, son­dern eine Land­kar­te lie­fern, um Ori­en­tie­rung zu bie­ten, um typi­sche Wid­rig­kei­ten und mög­li­che Wege zu erken­nen. Wie jede Land­kar­te, ent­hält sie nur bestimm­te aus­ge­wähl­te Aspek­te – auf einer Wan­der­kar­te sind ande­re Merk­ma­le ver­zeich­net, als auf einer Auto­kar­te oder einer Schie­nen­netz­kar­te.

Wer kann den Über­gang initi­ie­ren?

In allen bekann­ten und erfolg­rei­chen Bei­spie­len haben letzt­end­lich die Inha­ber des Unter­neh­mens die Initia­ti­ve ergrif­fen und ent­schie­den, das Unter­neh­men künf­tig kol­le­gi­al selbst­or­ga­ni­siert füh­ren zu las­sen.

Das ist einer­seits nahe­lie­gend und selbst­ver­ständ­lich, denn zu den wesent­li­chen Auf­ga­ben der Gesell­schaf­ter eines Unter­neh­mens gehö­ren:

  • Die Aus­wahl und Bestel­lung der Geschäfts­füh­rung.
  • Die Fest­le­gung Zustim­mungs­pflich­ten durch die Gesell­schaf­ter in der Sat­zung und in den Geschäfts­füh­rer­ver­trä­gen.
  • Die Schaf­fung von ver­bind­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen in der Sat­zung des Unter­neh­mens.

Ande­rer­seits mag es para­dox erschei­nen, dass aus­ge­rech­net die mäch­tigs­te Ent­schei­dungs­in­stanz die Ver­tei­lung und Begren­zung ihrer Macht beschlie­ßen soll.

Die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on beginnt fremd­be­stimmt?

Vor allem im zeit­li­chen Ver­lauf wirkt der Kon­trast wider­sprüch­lich: Die Ent­schei­dung zur Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on ist fremd­be­stimmt. In einem Moment tref­fen die Inha­ber zusam­men mit der Geschäfts­füh­rung eine dis­rup­ti­ve Ent­schei­dung zur Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, was dann zur Fol­ge hat, dass sie selbst bereits im nächs­ten Moment idea­ler­wei­se gar kei­ne Ent­schei­dun­gen mehr tref­fen.

Anders geht es aber nicht, schon auf Grund recht­li­cher Gege­ben­hei­ten. Sofern das kol­le­gia­le Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip dau­er­haft ver­an­kert, robust gegen Fremd­be­stim­mung und auch ein­klag­bar wer­den soll, sind die­se Prin­zi­pi­en in der Sat­zung der Orga­ni­sa­ti­on zu ver­an­kern oder sie müs­sen zumin­dest von den Ver­ant­wort­li­chen die­ser Sat­zung ent­schie­den wer­den.

Selbst­ver­ständ­lich kann es sinn­voll sein, eine kol­le­gia­le Füh­rung erst in einem Teil­be­reich eines Unter­neh­mens aus­zu­pro­bie­ren – aber auch dabei ist die Fra­ge zu stel­len, ob die­ses Expe­ri­ment die Rücken­de­ckung der obers­ten Füh­rung hat, von die­ser ver­stan­den wor­den ist und Teil einer unter­neh­mens­wei­ten Grund­satz­ent­schei­dung ist. Oder ob dies nur eine mehr oder weni­ger gedul­de­te Kurio­si­tät oder Insel der Glück­se­li­gen im Gesamt­kon­text ist.

Gegen­bei­spiel AES

Der Kraft­werks­be­trei­ber AES ist Bei­spiel dafür, wie Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on wie­der kaputt gehen kann, wenn die Kon­sti­tu­ti­on der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on nicht ver­bind­lich gere­gelt ist.

AES wur­de 1982 gegrün­det, hat von Anfang an selbst­or­ga­ni­siert gear­bei­tet und ist sehr schnell auf rund 20.000 Mit­ar­bei­ter gewach­sen. Das Unter­neh­men hat neue Kraft­wer­ke gebaut und auch bestehen­de Unter­neh­men über­nom­men und erfolg­reich inte­griert.

Im Zuge einer wirt­schaft­li­chen Kri­se (AES-Mit­be­wer­ber Enron ging gera­de plei­te) ver­ließ der Grün­der Den­nis Bra­ke im Jah­re 2002 das Unter­neh­men. Die­ser Wech­sel des obers­ten Manage­ments führ­te AES zurück in rein leis­tungs­ori­en­tier­te (oran­ge, vgl. Evo­lu­ti­on mensch­li­cher Orga­ni­sa­ti­ons­for­men) Füh­rungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en.

Wel­che Start­si­tua­ti­on ist her­zu­stel­len?

Über­for­de­rung ver­mei­den

Kol­le­gia­le Füh­rung basiert auf einer gan­zen Men­ge Wis­sen und noch viel mehr Kön­nen. Und gleich­zei­tig kön­nen Sie nicht vor­aus­set­zen, dass alle Betrof­fe­nen auch nur ansatz­wei­se über die­ses Wis­sen und die­se Fähig­kei­ten ver­fü­gen. Unse­re Unter­neh­men sind geprägt durch dis­zi­pli­nä­re Spe­zia­li­sie­run­gen. Eine macht die Buch­hal­tung, ein ande­rer ver­ant­wor­tet den Ver­kauf. Kaum einer ist Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler oder Füh­rungs­exper­te. Die Umstel­lung auf eine kol­le­gi­al geführ­te Orga­ni­sa­ti­on kann daher nicht davon abhän­gig gemacht wer­den, dass alle Kol­le­gen jetzt Füh­rung neu erfin­den.  Ein­fach nur Frei­raum zu stel­len und zu sagen, jetzt orga­ni­siert euch mal selbst, pro­vo­ziert ledig­lich eine abso­lu­te Über­for­de­rung.

Glück­li­cher­wei­se haben Mit­ar­bei­ter meis­tens ein gro­ßes Inter­es­se dar­an, ihre eigent­li­che Wert­schöp­fung zu voll­brin­gen und für Kun­den und Pro­duk­te zu arbei­ten, statt sich mit neu­en Orga­ni­sa­ti­ons- und Füh­rungs­prin­zi­pi­en zu beschäf­ti­gen.

Ande­rer­seits ver­bie­tet die Idee der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on doch, eben die­se fremd­be­stimmt anzu­lei­ten – oder? Der Aus­weg aus die­sem Dilem­ma liegt dar­in, bei­des zu tun.

Wel­che Fremd­be­stim­mung hilft der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on beim Start?

Bei jedem Schritt und jeder Ver­än­de­rung die aus dem alten Sys­tem her­aus­führt oder das alte Sys­tem ersetzt, ist ein neu­er Rah­men initi­al vor­zu­ge­ben. Dies gilt aber nur für den jeweils ers­ten Schritt – eben initi­al. Jede wei­te­re Ver­än­de­rung an dem so gesetz­ten neu­en Sys­tem muss dann kol­le­gi­al selbst­organ­siert erfol­gen.

Wenn bei­spiels­wei­se Ent­schei­dun­gen über den Dienst- und Urlaubs­plan in ein kol­le­gia­les Orga­ni­sa­ti­ons­sys­tem zu über­füh­ren sind und die­se Pla­nung bis­her von einer klas­si­schen Füh­rungs­kraft ver­ant­wor­tet wur­de, dann ist

  • klar­zu­stel­len, also die Ent­schei­dung mit­zu­tei­len, dass die­se Pla­nung nicht län­ger von der Füh­rungs­kraft ver­ant­wor­tet wird (Gegen­stands­be­reich),
  • ein neu­er Rah­men und ggf. Ver­fah­ren vor­zu­ge­ben, wie die Kol­le­gen dies nun mit­ein­an­der ent­schei­den sol­len (ope­ra­ti­ve Ebe­ne)
  • und wie die Kol­le­gin­nen wie­der­um die­sen Rah­men und die­ses Ver­fah­ren selbst ändern und wei­ter­ent­wi­ckeln dür­fen, sofern sie dafür Bedarf sehen (orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne).

Von der bis­he­ri­gen Füh­rung ist klar­zu­stel­len, wel­che Ent­schei­dun­gen nun­mehr kol­le­gi­al gestalt­bar sind und wel­che nicht. Dabei sind die ers­te (ope­ra­ti­ve) und zwei­te (orga­ni­sa­tio­na­le) Ord­nungs­ebe­ne expli­zit zu unter­schei­den:

  • Ope­ra­ti­ve Ebe­ne
    Für die ope­ra­ti­ve Ebe­ne könn­te bei­spiels­wei­se vor­ge­ge­ben wer­den: „Ihr trefft euch ein­mal wöchent­lich zu einem ope­ra­ti­ven Jour fix und die jeweils Anwe­sen­den ent­schei­den im Kon­sent (vgl. Ver­bun­den im Kon­sent; die Prin­zi­pi­en der sozio­kra­ti­schen Kreis­or­ga­ni­sa­ti­on) über den Dienst­plan.“
  • Orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne
    Und für die orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne könn­te bei­spiels­wei­se vor­ge­ge­ben wer­den: „Ein­mal im Monat ver­an­stal­tet ihr ein orga­ni­sa­tio­na­les Arbeits­tref­fen und könnt dort im Kon­sent aller Anwe­sen­den eure Zusam­men­ar­beit, Arbeits­wei­sen, Arbeits­tref­fen etc. ändern.“

Erst durch die Start­vor­ga­ben auf bei­den Ord­nungs­ebe­nen ist das betrof­fe­ne Team wei­ter­hin arbeits­fä­hig.

Das Team muss sich ganz schön umstel­len und vie­les neu ler­nen – aber es hat Sicher­heit und Klar­heit dar­über, wie es sei­nen Auf­ga­ben und sei­ner Ver­ant­wor­tung nach­kom­men kann. Wird es anfangs zusätz­lich durch team­ex­ter­ne Mode­ra­ti­on unter­stützt, kön­nen sich alle Kol­le­gen voll auf ihre neu­en Rol­len kon­zen­trie­ren.

Wür­de hin­ge­gen nur die orga­ni­sa­tio­na­le Ebe­ne vor­ge­ge­ben, gerie­te das Team in eine Über­las­tungs­si­tua­ti­on: Es wäre zunächst nicht mehr ope­ra­tiv arbeits­fä­hig, denn es wäre unklar, wer den Dienst­plan macht. Es hät­te dop­pel­ten Druck: das Tages­ge­schäft läuft wei­ter und es müss­te die Dienst­pla­nung neu orga­ni­sie­ren. Dem Team also nur zu sagen „Orga­ni­siert euch jetzt selbst und ent­schei­det alles im Kon­sent“, wür­de das Team in eine unnö­ti­ge Kri­se stür­zen.

Typi­scher­wei­se üben selbst­or­ga­ni­sier­te Teams die neu­en Ent­schei­dungs- und Wil­lens­bil­dungs­pro­zes­se erst­mal ein, sam­meln Erfah­run­gen damit und begin­nen dann lang­sam aber sicher neue eige­ne Ideen zu ent­wi­ckeln und aus­zu­pro­bie­ren, die eige­ne Arbeit und sich als Team zu orga­ni­sie­ren.

Bevor also tat­säch­lich mit der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on begon­nen wird sind die initi­al gel­ten­de Struk­tu­ren, Pro­zes­se und Prin­zi­pi­en fest­zu­le­gen.

Im nächs­ten Blog­bei­trag zu die­sem The­ma wer­de ich über die typi­schen Pha­sen der Ein­füh­rung schrei­ben.

 

Dieser Beitrag steht unter der Lizenz Creative Commons „Namensnennung 4.0“. Sie dürfen diesen Beitrag gerne für Ihre eigenen Zwecke verwenden, auch in einem kommerziellen Kontext, auch im Wettbewerb zu uns, solange Sie die oben genannte verfassende Person sowie die Bezugsquelle "Werkstatt für Kollegiale Führung  (https://kollegiale-fuehrung.de/)" nennen.