Wie führt man Selbstorganisationsprinzipien in Unternehmen ein? Mit dieser Frage war ich in den letzten Jahren und Monaten öfter konfrontiert, wenn ich Unternehmer und Unternehmen dabei begleitete, Führungsprinzipien umzustellen. Dabei sind mir immer wieder bestimmte kritische Situationen und Phänomene aufgefallen, die ich deswegen mal als typisch bezeichnen möchte und zu deren Vermeidung oder Handhabung ich eine bestimmte Vorgehensweise entwickelt habe. Diese möchte ich als zweiteiligen Blogbeitrag teilen. Dies hier ist der erste Teil.
Den nachfolgenden Text möchte ich nicht als Anleitung (Routenplan), sondern als Theorie (Landkarte) verstanden wissen. Ich möchte also nicht pauschal dazu auffordern, genauso vorzugehen, sondern eine Landkarte liefern, um Orientierung zu bieten, um typische Widrigkeiten und mögliche Wege zu erkennen. Wie jede Landkarte, enthält sie nur bestimmte ausgewählte Aspekte – auf einer Wanderkarte sind andere Merkmale verzeichnet, als auf einer Autokarte oder einer Schienennetzkarte.
Wer kann den Übergang initiieren?
In allen bekannten und erfolgreichen Beispielen haben letztendlich die Inhaber des Unternehmens die Initiative ergriffen und entschieden, das Unternehmen künftig kollegial selbstorganisiert führen zu lassen.
Das ist einerseits naheliegend und selbstverständlich, denn zu den wesentlichen Aufgaben der Gesellschafter eines Unternehmens gehören:
- Die Auswahl und Bestellung der Geschäftsführung.
- Die Festlegung Zustimmungspflichten durch die Gesellschafter in der Satzung und in den Geschäftsführerverträgen.
- Die Schaffung von verbindlichen Rahmenbedingungen in der Satzung des Unternehmens.
Andererseits mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet die mächtigste Entscheidungsinstanz die Verteilung und Begrenzung ihrer Macht beschließen soll.
Die Selbstorganisation beginnt fremdbestimmt?
Vor allem im zeitlichen Verlauf wirkt der Kontrast widersprüchlich: Die Entscheidung zur Selbstorganisation ist fremdbestimmt. In einem Moment treffen die Inhaber zusammen mit der Geschäftsführung eine disruptive Entscheidung zur Selbstorganisation, was dann zur Folge hat, dass sie selbst bereits im nächsten Moment idealerweise gar keine Entscheidungen mehr treffen.
Anders geht es aber nicht, schon auf Grund rechtlicher Gegebenheiten. Sofern das kollegiale Organisationsprinzip dauerhaft verankert, robust gegen Fremdbestimmung und auch einklagbar werden soll, sind diese Prinzipien in der Satzung der Organisation zu verankern oder sie müssen zumindest von den Verantwortlichen dieser Satzung entschieden werden.
Selbstverständlich kann es sinnvoll sein, eine kollegiale Führung erst in einem Teilbereich eines Unternehmens auszuprobieren – aber auch dabei ist die Frage zu stellen, ob dieses Experiment die Rückendeckung der obersten Führung hat, von dieser verstanden worden ist und Teil einer unternehmensweiten Grundsatzentscheidung ist. Oder ob dies nur eine mehr oder weniger geduldete Kuriosität oder Insel der Glückseligen im Gesamtkontext ist.
Gegenbeispiel AES
Der Kraftwerksbetreiber AES ist Beispiel dafür, wie Selbstorganisation wieder kaputt gehen kann, wenn die Konstitution der Selbstorganisation nicht verbindlich geregelt ist.
AES wurde 1982 gegründet, hat von Anfang an selbstorganisiert gearbeitet und ist sehr schnell auf rund 20.000 Mitarbeiter gewachsen. Das Unternehmen hat neue Kraftwerke gebaut und auch bestehende Unternehmen übernommen und erfolgreich integriert.
Im Zuge einer wirtschaftlichen Krise (AES-Mitbewerber Enron ging gerade pleite) verließ der Gründer Dennis Brake im Jahre 2002 das Unternehmen. Dieser Wechsel des obersten Managements führte AES zurück in rein leistungsorientierte (orange, vgl. Evolution menschlicher Organisationsformen) Führungs- und Organisationsprinzipien.
Welche Startsituation ist herzustellen?
Überforderung vermeiden
Kollegiale Führung basiert auf einer ganzen Menge Wissen und noch viel mehr Können. Und gleichzeitig können Sie nicht voraussetzen, dass alle Betroffenen auch nur ansatzweise über dieses Wissen und diese Fähigkeiten verfügen. Unsere Unternehmen sind geprägt durch disziplinäre Spezialisierungen. Eine macht die Buchhaltung, ein anderer verantwortet den Verkauf. Kaum einer ist Organisationsentwickler oder Führungsexperte. Die Umstellung auf eine kollegial geführte Organisation kann daher nicht davon abhängig gemacht werden, dass alle Kollegen jetzt Führung neu erfinden. Einfach nur Freiraum zu stellen und zu sagen, jetzt organisiert euch mal selbst, provoziert lediglich eine absolute Überforderung.
Glücklicherweise haben Mitarbeiter meistens ein großes Interesse daran, ihre eigentliche Wertschöpfung zu vollbringen und für Kunden und Produkte zu arbeiten, statt sich mit neuen Organisations- und Führungsprinzipien zu beschäftigen.
Andererseits verbietet die Idee der Selbstorganisation doch, eben diese fremdbestimmt anzuleiten – oder? Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt darin, beides zu tun.
Welche Fremdbestimmung hilft der Selbstorganisation beim Start?
Bei jedem Schritt und jeder Veränderung die aus dem alten System herausführt oder das alte System ersetzt, ist ein neuer Rahmen initial vorzugeben. Dies gilt aber nur für den jeweils ersten Schritt – eben initial. Jede weitere Veränderung an dem so gesetzten neuen System muss dann kollegial selbstorgansiert erfolgen.
Wenn beispielsweise Entscheidungen über den Dienst- und Urlaubsplan in ein kollegiales Organisationssystem zu überführen sind und diese Planung bisher von einer klassischen Führungskraft verantwortet wurde, dann ist
- klarzustellen, also die Entscheidung mitzuteilen, dass diese Planung nicht länger von der Führungskraft verantwortet wird (Gegenstandsbereich),
- ein neuer Rahmen und ggf. Verfahren vorzugeben, wie die Kollegen dies nun miteinander entscheiden sollen (operative Ebene)
- und wie die Kolleginnen wiederum diesen Rahmen und dieses Verfahren selbst ändern und weiterentwickeln dürfen, sofern sie dafür Bedarf sehen (organisationale Ebene).
Von der bisherigen Führung ist klarzustellen, welche Entscheidungen nunmehr kollegial gestaltbar sind und welche nicht. Dabei sind die erste (operative) und zweite (organisationale) Ordnungsebene explizit zu unterscheiden:
- Operative Ebene
Für die operative Ebene könnte beispielsweise vorgegeben werden: „Ihr trefft euch einmal wöchentlich zu einem operativen Jour fix und die jeweils Anwesenden entscheiden im Konsent (vgl. Verbunden im Konsent; die Prinzipien der soziokratischen Kreisorganisation) über den Dienstplan.“ - Organisationale Ebene
Und für die organisationale Ebene könnte beispielsweise vorgegeben werden: „Einmal im Monat veranstaltet ihr ein organisationales Arbeitstreffen und könnt dort im Konsent aller Anwesenden eure Zusammenarbeit, Arbeitsweisen, Arbeitstreffen etc. ändern.“
Erst durch die Startvorgaben auf beiden Ordnungsebenen ist das betroffene Team weiterhin arbeitsfähig.
Das Team muss sich ganz schön umstellen und vieles neu lernen – aber es hat Sicherheit und Klarheit darüber, wie es seinen Aufgaben und seiner Verantwortung nachkommen kann. Wird es anfangs zusätzlich durch teamexterne Moderation unterstützt, können sich alle Kollegen voll auf ihre neuen Rollen konzentrieren.
Würde hingegen nur die organisationale Ebene vorgegeben, geriete das Team in eine Überlastungssituation: Es wäre zunächst nicht mehr operativ arbeitsfähig, denn es wäre unklar, wer den Dienstplan macht. Es hätte doppelten Druck: das Tagesgeschäft läuft weiter und es müsste die Dienstplanung neu organisieren. Dem Team also nur zu sagen „Organisiert euch jetzt selbst und entscheidet alles im Konsent“, würde das Team in eine unnötige Krise stürzen.
Typischerweise üben selbstorganisierte Teams die neuen Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse erstmal ein, sammeln Erfahrungen damit und beginnen dann langsam aber sicher neue eigene Ideen zu entwickeln und auszuprobieren, die eigene Arbeit und sich als Team zu organisieren.
Bevor also tatsächlich mit der Selbstorganisation begonnen wird sind die initial geltende Strukturen, Prozesse und Prinzipien festzulegen.
Im nächsten Blogbeitrag zu diesem Thema werde ich über die typischen Phasen der Einführung schreiben.