Werkstatt für kollegiale Führung
Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen
Über den Beitrag
Verfassende Person
Picture of Bernd Oestereich

Bernd Oestereich

Impulsgeber für kollegial geführte Organi­sationen mit Erfahrung als Unternehmer seit 1998. Sprecher und Autor inter­national verlegter Bücher.
Schlagwörter

Adam Smith, ein ver­kann­ter Öko­nom und Moral­phi­lo­soph

Im Zusam­men­hang mit dem in letz­ter Zeit viel geschol­te­nen Tay­lo­ris­mus kommt auch der Name Adam Smith gele­gent­lich ins Spiel. Dabei wer­den ihm auch neo­li­be­ra­le Ideen zuge­schrie­ben, bei­spiels­wei­se dass sich die Öko­no­mie selbst mit “unsicht­ba­re Hand” regu­lie­ren wür­de, wenn man sie frei lau­fen lässt. Eine aktu­ell erschie­ne­ne Bio­gra­phie über das Leben und Werk von Adam Smith zeigt jedoch völ­li­ge ande­re Sei­ten und Hal­tun­gen des schot­ti­schen Moral­phi­lo­so­phen – die auch heu­te noch oder gera­de wie­der hoch aktu­ell erschei­nen.

Mit­ge­fühl und Ein­bil­dungs­kraft

Men­schen kön­nen allei­ne nicht gut über­le­ben, suchen des­we­gen die Gemein­schaft mit ande­ren Men­schen, und sind dafür auch bereit, sich den Regeln und Erwar­tun­gen der jewei­li­gen Gemein­schaft unter­zu­ord­nen. Wir wer­den bereits mit der Fähig­keit gebo­ren, uns in ande­re hin­zu­füh­len, was Adam Smith zufol­ge eine viel ele­men­tar­e­re und frü­he­re Form der mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on ist, als die Spra­che. Wir benut­zen hier­zu unse­re Ein­bil­dungs­kraft und über­win­den so die Gren­zen unse­rer eige­nen Per­son.

“Soll­te das in unse­rer Vor­stel­lung Nach­emp­fun­de­ne mit den Gefühls­äu­ße­run­gen der Betrof­fe­nen kor­re­spon­die­ren, bspw. mit der Bekun­dung von Trau­er, dann bil­li­gen wir die­se, sonst miss­bil­li­gen wir sie” (S. 68). In die­ser Wei­se fäl­len wir Wert­ur­tei­le über ande­re und wer­ten das Ver­hal­ten ande­rer. Dabei ist unse­re Bereit­schaft, mit den Affek­ten ande­rer zu sym­pa­thi­sie­ren, indi­vi­du­ell, situa­tiv und kul­tu­rell ver­schie­den.

Smith unter­schei­det kör­per­li­che (Hun­ger), psy­chi­sche (Angst, Kum­mer), unso­zia­le (Hass, Ver­gel­tungs­wunsch), sozia­le (Güte, Mit­leid) und selbst­be­zo­ge­ne (Glück, Unglück) Ursa­chen für unse­re Affek­te und meint, dass es jeweils dar­auf ankä­me, wie weit wir die­se nach­voll­zie­hen kön­nen. Weil wir Men­schen davon aus­gin­gen, dass jeder für sich selbst ver­ant­wort­lich ist und für sich sor­gen muss, akzep­tier­ten wir grund­sätz­lich selbst­be­zo­ge­ne Affek­te wie Kum­mer, Freu­de, Glück, Trau­er etc. Aller­dings nur in gewis­sen Maßen. So sei die Sym­pa­thie mit selbst­be­zo­ge­nen Affek­ten weni­ger inten­siv als bei sozia­len Affek­ten und eben­so sei auch die Abnei­gung weni­ger inten­siv als bei unso­zia­len Affek­ten. (S. 74)

Smith sagt: Wer­den die selbst­be­zo­ge­nen posi­ti­ven Affek­te zu stark (zu gro­ßes Glück), schwin­det die Anteil­nah­me und geht über in Neid. Gerin­ge selbst­be­zo­ge­ne nega­ti­ve Affek­te (zu klei­nes Unglück) kön­nen wie­der­um über­ge­hen in Gespött.

Gerech­tig­keits­sinn inkl. Sym­pa­thie mit dem Bösen

Nach Smith ver­fü­gen wir über einen aus­ge­präg­ten Gerech­tig­keits­sinn. So kann bspw. ein Ver­gel­tungs­ge­fühl ent­ste­hen, wenn wir Unge­rech­tig­keit wahr­neh­men. Wir sym­pa­thi­sie­ren dann unter Umstän­den sogar mit dem unso­zia­len Gefühl, Böses mit Bösem zu ver­gel­ten.

Das Ver­gel­tungs­ge­fühl scheint ein Aus­gleichs­be­dürf­nis zu sein. Wobei es dabei nicht um Rache, son­dern um Fair­ness geht. Ande­re kön­nen akzep­tie­ren, dass wir bes­ser sein wol­len, aber eben nicht dadurch, dass wir ande­ren hier­zu unmit­tel­bar scha­den.

Bei unso­zia­len Affek­ten wie Hass, Rache und Ver­gel­tungs­wunsch teilt sich Smit­hs Idee nach die Sym­pa­thie zwi­schen Sub­jekt und Objekt auf. Das Mit­ge­fühl mit der einen Per­son, bspw. mit einem Ver­gel­tungs­wunsch, wird durch das mit der ande­ren, bspw. Mit­leid, redu­ziert. Des­we­gen erreicht die “Sym­pa­thie mit unso­zia­len Affek­ten nie die Inten­si­tät, wie dies bei sozia­len Affek­ten der Fall ist” (S. 71). Oder anders for­mu­liert, wir­ken sozia­le Affek­te (Wohl­tä­tig­keit, Güte, Ach­tung, Edel­mut, Mit­leid etc.) dop­pelt: auf den Geben­den und auf den Erhal­te­nen.

Unser Gerech­tig­keits­sinn rich­tet sich dabei nicht nur gegen ande­re, son­dern mög­li­cher­wei­se auch gegen uns selbst. Wir nen­nen das dann Gewis­sens­bis­se.

Inter­es­sant fin­de ich, dass wir die­sen Gerech­tig­keits­sinn auch über die Spiel­theo­rie empi­risch bestä­ti­gen kön­nen: Geben wir zwei Men­schen 100 Euro nur unter der Bedin­gung, dass sie sich über die Auf­tei­lung eini­gen kön­nen, zie­hen Men­schen es regel­mä­ßig vor, lie­ber gar nichts zu erhal­ten, als wenig aber in unge­rech­ter Ver­tei­lung.

Mora­li­sches Wis­sen und der Wunsch, lie­bens­wert zu sein

Um rich­tig zu urtei­len und zu han­deln, im Sin­ne einer nor­ma­ti­ven Ethik, genügt Mit­ge­fühl jedoch nicht. Es müs­sen auch eige­ne Vor­an­nah­men hin­ter­fragt wer­den (S. 76).

Wir stre­ben danach, zu Recht lie­bens­wert zu sein. Hier­zu ler­nen wir, uns mit den Augen ande­rer zu sehen, also ein mul­ti­per­spek­ti­ves Selbst­bild zu ent­wi­ckeln. Erst durch die­ses Bemü­hen nach Über­par­tei­lich­keit kön­nen wir das Rich­ti­ge erken­nen und mora­li­sches Wis­sen erlan­gen. Die­ses mora­li­sche Wis­sen kann mit der öffent­li­chen Mei­nung ein­her­ge­hen, muss aber nicht (S. 77).

Wenn wir sagen, dass wir als auf­ge­klär­te Men­schen der Wahr­heit ver­pflich­tet sind und nicht ein­fach tun und las­sen, was ande­re uns vor­schrei­ben oder von uns erwar­ten, dann ist die­ses mora­li­sche Wis­sen gemeint. Die­ses Wis­sen ist nach Adam Smith das “ein­zi­ge wirk­lich funk­tio­nie­ren­de Heil­mit­tel gegen Oppor­tu­nis­mus und Kon­for­mis­mus” (S. 78).

Weil wir gesel­li­ge Wesen sind, sind uns die Urtei­le ande­rer nicht egal. Wir stre­ben nach Wert­schät­zung durch ande­re Men­schen. “Im Rah­men unse­rer Sozia­li­sa­ti­on” sind wir dafür sogar bereit, unse­re Ansich­ten so zu ändern und unse­re Affek­te so zu kon­di­tio­nie­ren, das ande­re sie bil­li­gen oder zustim­men kön­nen (S. 78).

Wor­über ich in der Bio­gra­phie wenig fin­den konn­te (S. 79), was mich aber noch inter­es­siert hät­te, wären die Gedan­ken Adam Smith zum Ein­fluss des Selbst­wert­ge­fühls.

Pflicht­ge­fühl

Was uns hin­ge­gen nicht ange­bo­ren sei, son­dern auf Erfah­rung und ratio­na­ler Ein­sicht basie­ren wür­de, sei das Pflicht­ge­fühl (S. 79). Ver­mut­lich ging Adam Smith davon aus, dass wir beob­ach­ten, wie unser Ver­hal­ten auf ande­re wirkt und hier­zu The­sen über mög­li­che Zusam­men­hän­ge bil­den. Pflicht­ge­fühl ist für Adam Smith dann das Bestre­ben, “alle jene Hand­lun­gen zu ver­mei­den, die uns has­sens­wert, ver­ächt­lich und straf­fäl­lig machen müss­ten” (S. 79).

“Die aus Erfah­rung als ver­nünf­tig erach­te­te Befol­gung von Pflich­ten führt zu ‘See­len­ru­he, Zufrie­den­heit und Genug­tu­ung über das eige­ne Ver­hal­ten’ und schafft zudem eine gerech­te­re Gesell­schaft”, wird Adam Smith zitiert (S. 80). Weil dies aber nicht ange­bo­ren ist, bedarf es gesell­schaft­li­cher, staat­li­cher und orga­ni­sa­to­ri­scher Rechts­sys­te­me zur Gewähr­leis­tung der Pflich­ten durch Sank­tio­nen und Beloh­nun­gen.

Ich stel­le mir hier die Fra­ge, ob Pflicht­ge­fühl auch mit dem Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl zu einer Gemein­schaft kor­re­spon­diert und ob dar­über das Phä­no­men der Ver­ant­wor­tungs­dif­fu­si­on zu erklä­ren ist? Füh­len wir uns bei­spiels­wei­se dem Nah­be­reich von Fami­lie, Freun­den oder Nach­bar­schaft mehr zuge­hö­rig, als viel­leicht dem Staat, einer Orga­ni­sa­ti­on oder einer Nati­on, dann müss­te das Pflicht­ge­fühl in Abhän­gig­keit davon unter­schied­lich aus­ge­prägt sein.

Außer­dem geht er auch davon aus, dass es unmit­tel­ba­re Über­tra­gung von Gefüh­len ohne kogni­ti­ve Anstren­gung gibt, bei­spiels­wei­se Panik (S. 97).

Abschluss

Adam Smith leb­te in einer ganz ande­ren Zeit und Gesell­schaft als wir heu­te. Die Nöte und Abhän­gig­kei­ten durch Hun­ger, Armut, Ver­skla­vung, Ket­ze­rei, sozia­ler Her­kunft etc. schei­nen, obwohl noch immer vor­han­den, nicht mit der dama­li­gen Zeit zu ver­glei­chen. Und doch pas­sen vie­le sei­ner Gedan­ken eben­so gut noch in unse­re Zeit.

In Anbe­tracht sei­ner Bio­gra­phie und sei­ner Wer­ke erscheint die Ver­ein­nah­mung sei­ner Per­son für neo­li­be­ra­le Ideen eher abwe­gig. Es erscheint mir als ein his­to­ri­sches Miss­ver­ständ­nis, gera­de ihm die Befür­wor­tung völ­lig unge­re­gel­ter Markt­me­cha­nis­men zuzu­schrei­ben. Sei­ne Gedan­ken zum ange­bo­re­nen Mit­ge­fühl, einem natür­lich aus­ge­präg­ten Gerech­tig­keits­sinn und einem gelern­ten Pflicht­ge­fühl fin­de ich hin­ge­gen auch im Kon­text von Orga­ni­sa­tio­nen hilf­reich.

Die im Text ange­ge­be­nen Sei­ten­zah­len bezie­hen sich auf die jüngst erschie­ne­ne Bio­gra­phie “Adam Smith, Wohl­stand und Moral, eine Bio­gra­phie”  von Ger­hard Stre­min­ger (Ver­lag C. H. Beck, 2017, http://www.chbeck.de/streminger-adam-smith/product/17770115), die ich hier­mit emp­feh­len möch­te: Ein unter­halt­sa­mes und sehr lesens­wer­tes Buch.

 

Dieser Beitrag steht unter der Lizenz Creative Commons „Namensnennung 4.0“. Sie dürfen diesen Beitrag gerne für Ihre eigenen Zwecke verwenden, auch in einem kommerziellen Kontext, auch im Wettbewerb zu uns, solange Sie die oben genannte verfassende Person sowie die Bezugsquelle "Werkstatt für Kollegiale Führung  (https://kollegiale-fuehrung.de/)" nennen.