Die kommende Bundestagswahl ist für mich ein Anlass, auf die Parteien und ihr Personal zu schauen, ob sie den komplexen und transformativen Herausforderungen unserer Zeit auch mit komplexen und systemverändernden Antworten entgegentreten und wie wir als Bürgerinnen unsererseits das politische System mehr in die Verantwortung nehmen können.
Viele KollegInnen und Kundinnen kennen mich nur als Organisationsbegleiterin, Kollegin, Coach oder Trainerin im beruflichen Kontext der agilen Organisationsentwicklung.
Was viele gar nicht von mir wissen, ist meine Liebe zur Natur, wie verbunden ich mich schon seit meiner Kindheit mit ihr fühle. Dabei wuchs ich in einer Stadt auf und wusste so gut wie nichts über Flora und Fauna. Und wie sich heute viele junge Menschen gegen die Klimakatastrophe engagieren, so tat ich das ebenso in meiner Jugend. Während meiner Kindheit war es der saure Regen, der die Wälder und die Luft bedrohte. In meiner studentischen Zeit entstand das Ozonloch, das die schützende Atmosphäre und unser Leben bedrohte. Zum Ende meines betriebswirtschaftlichen Studiums vertiefte ich auch das Fach betriebliches Umweltmanagement und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, beruflich im Umweltschutz zu arbeiten. Was mir während dieser Zeit als aktive Umweltschützerin (so nannte man das damals) widerstrebte, waren die verhärteten Fronten, das Beharren darauf, der alleinige Besitzer der Wahrheit zu sein. Das jeweilige Problem schien jedes Mal unlösbar.
Dies führte dazu, dass ich mich für einen anderen beruflichen Weg entschied, der mich bis heute sehr erfüllt. Die umweltbewussten Gedanken gingen ins Privatleben über, ich beendete meine aktive Mitgliedschaft im BUND und wurde passive private Umweltbewusste, spendete regelmäßig und blieb informiert, statt zu demonstrieren, Streuobstwiesen-Aktionen zu pflegen oder auf Marktplätzen meine Mitmenschen bewegen zu wollen. Damit entkoppelte ich diesen Teil komplett von meinem Beruf.
Naturschutz wurde etwas rein Privates und hatte nichts mehr in meinem professionellen Umfeld zu suchen. Ich sah viele Jahre keinen Bedarf, das zu thematisieren oder mit in die Arbeitswelt zu nehmen. Und es schwang auch eine Sorge mit, meine Professionalität aus dem Auge zu verlieren, womöglich nicht mehr neutral bei Kundenanliegen zu sein, wenn ich das Thema anspräche.
Diese Einstellung hat sich geändert.
Während wir rückblickend den sauren Regen sowie das Ozonloch glückerweise durch aktives gemeinsames Handeln abwenden konnten, hat sich in der Zwischenzeit etwas viel Bedrohlicheres über uns zusammengebraut, das angesichts der Auswirkungen in seiner Intensität und Dringlichkeit alles zurückliegende in den Schatten stellt und das nicht nur mein Privatleben betrifft: Ich nenne das Thema absichtsvoll Klimakatastrophe statt Klimawandel, denn die Veränderungen, die auf uns zukommen, werden katastrophal sein und nicht nur milde Teilbereiche unseres Lebens wandeln. Es kann daher nicht entkoppelt betrachtet werden.
Transformierende Kräfte von unten
So begann ich in 2019, das Thema Natur auf einer Klausur in unserem Beraternetzwerk next U anzusprechen. Die Resonanz bei den Kolleginnen war ähnlich. Wir wollten nicht länger nur privat etwas tun und begannen, Ideen zum Thema Nachhaltigkeit zu sammeln, wie wir künftig ganzheitlicher agieren könnten. Entstanden sind daraus erste konkrete Schritte, einige verminderten ihre Reisetätigkeit, wir fassten notwendige Reiseereignisse zusammen, änderten unsere AGBs, strichen Inlandsflüge, nutzen seitdem die Bahn inklusive Nachtzüge. Im privaten haben einige komplett ihre Flüge gestrichen, nutzen Ecosia etc., um unsere CO2-Fußabdrücke kontinuierlich zu vermindern. Wir berichteten seinerzeit in einem Newsletter darüber sowie in unseren Netzwerken und bei unseren Kundinnen. Daneben fördern die Arbeitsweisen der kollegialen Führung und ihre Konzepte, ortsansässige Begleiterinnen zu nutzen. Wir engagieren uns in Projekten (wie https://www.citizens-forests.org/), für Straßenbäume in unserem Quartier und gehen wieder demonstrieren.
Zeitgleich fanden in anderen Berufsnetzwerken ähnliche Gedanken und Aktionen statt. Beispielsweise das Agile Culture Camp (https://agileculturecamp.de), das sich diesem Thema hauptsächlich verschrieb. Wir kooperierten und vernetzten uns stärker. In der 2020 gegründeten Gilde Agile Organisationsentwicklung initiierten wir Anfang dieses Jahres den Kreis Nachhaltigkeit und Organisationsentwicklung (https://agile-gilde.org/organisation/), um einen Denkraum zu bieten, wie das Thema Nachhaltigkeit mit Organisationsentwicklung verbunden werden kann. Wir verproben erste Ideen und Methoden, wie wir Nachhaltigkeit in Organisationen ansprechen, ganzheitlich denken und integrieren können, um Organisationen zukunftsfähig aufzustellen und zu begleiten. Welchen Weg die Organisationen hierzu gehen wollen und können, bestimmen wiederum deren äußere Rahmenbedingen und Strukturen, in die wir alle eingebettet sind, also beispielsweise die Wirtschaftsordnung, Gesetze etc.
Transformation von oben durch Änderung der Rahmenbedingungen ermöglichen
Wir kommen also nicht umhin, den großen bundesweiten Rahmen zu betrachten und zu verändern, wenn wir rasch die vorhandenen Konzepte aus der Wissenschaft umsetzen wollen. Wir brauchen zu den zahlreichen Graswurzelbewegungen (Veränderung von unten im vorhandenen Rahmen) zusätzlich eine kraftvolle Bewegung von den gewählten Entscheiderinnen (Veränderung von oben mit der Macht, den Rahmen für unten zu verändern).
Dabei unterstützen aus meiner Sicht drei wichtige Ereignisse, die in den letzten Monaten aufeinander folgten. Erstens wurde am 29. April 2021 ein richtungsweisendes Urteil des Bundesverfassungsgericht an die Politik zu ihrem Klimaschutzgesetz gefällt und darin die Frage der Generationengerechtigkeit deutlich gestärkt (https://www.wwf.de/themen-projekte/klima-energie/klimaschutz-und-energiewende-in-deutschland/klimaschutzgesetz/urteil-zum-klimaschutzgesetz). Zweitens greifen die klassischen Massenmedien wie Fernsehen, Funk und Presse das Thema Klimakatastrophe (dort heißt es noch Klimawandel) auf und stellen kritische Fragen. Und drittens liegen die Ergebnisse des Weltklimarats über die menschengemachte Erderwärmung fundiert vor (https://www.tagesschau.de/ausland/europa/weltklimarat-bericht-klimawandel-101.html).
Politische Entscheidungsträger
Widmen wir uns den politischen Entscheidungsträgerinnen in diesem Land: Die Bundestagswahl steht bevor, indirekte Rollenwahlen stehen im üblichen Entscheidungsverfahren der Bundestagswahl an. Einige Anwärter für das Kanzlerinnenamt äußern bereits in den Medien ihre Absicht, jetzt „endlich den Hebel umlegen zu wollen“. Diesen Satz kenne ich auch aus vielen OE-Anfragen.
Die Klimakatastrophe (und andere globale Herausforderungen) mechanistisch zu betrachten (es braucht mehr Digitalisierung, technische Lösungen etc.) und kausale Antworten zu geben, ist unzureichend und sollte nicht mehr unkommentiert hingenommen werden. Wir können nicht nicht entscheiden. Eine Position zu vermeiden, nicht zu handeln hat ebenso eine Auswirkung, wie ein aktiver Schritt.
Die Naturphänomene, die durch die Erderwärmung ausgelöst werden, wie Trockenheit, Überflutungen, Hitzewellen, Brände etc., betreffen lebende Systeme und sind miteinander verwoben. Die Erde und alle damit verbundenen lebenden Systeme sind komplex, Lebenszyklen sind Kreisläufe, keine mechanistischen Produktionszyklen, es gibt darin kein unbeschränktes Wachstum.
Mehr Komplexität zur Lösung
Einem komplexen Problemphänomen ist ein ebenso komplexes System entgegenzusetzen, um es lösen zu können:
- Wie stark bildet die aktuelle Parteienlandschaft diese notwendige Komplexität ab?
Welche Rahmenbedingungen, Strukturen, Prozesse, Entscheidungsmechanismen etc. zur Bewältigung der anstehenden komplexen Aufgaben haben sie? - Wie organisieren sie sich, mit welchen Methoden gehen sie vor?
- Welche Denkstrukturen, welchen Reifegrad bringen sie dabei mit, um die anstehenden komplexen Aufgaben zu erkennen, zu verstehen und anzugehen?
- Was bringen sie als neue Handlungsweisen mit, um gesellschaftsübergreifende große Themen nachhaltig zu lösen?
Politik radikal neu denken?
In diesem Zuge finde ich die Thesen von Hanno Burmester und Clemens Holtmann sehr inspirierend. Sie sind politisch aktiv, haben pragmatische Erfahrungen in demokratischen Prozessen gesammelt und sich mit ähnlichen Fragen in Bezug auf Parteien beschäftigt. Diese Analysen, Thesen, Erfahrungen, Tipps und Ideen haben sie in ihrem Buch “Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt – Warum wir die Politik radikal neu denken müssen“ zusammengetragen und beschrieben.
Die Frage, ob eine Partei transformative Elemente enthält, die für komplexe Aufgaben notwendig wären, fand ich für mich hilfreich. Daneben gibt das Buch weitere interessante Kategorien und Einstufungen der Parteien.
Einige Thesen, die mich vor der Wahl doch sehr zum Nachdenken brachten, möchte ich hier zitieren:
Im Kontext Transformation und Rahmen (siehe Buchseite 30)
- “Aus unserer Sicht reduzieren die klassischen politischen Parteien ihren Auftrag auf das Verändern von Details im bestehenden Spiel.”
- “Die klassischen Parteien reden zwar von transformativen Herausforderungen, begegnen ihnen aber so, als seien sie technische Probleme.”
- “Sie sind dermaßen darauf fokussiert, Details im bestehenden Rahmen anzupassen, dass sie vergessen, diesen Rahmen selbst zur Diskussion zu stellen.”
In Bezug auf Klimakrise und Zerstörung der Ökosysteme (siehe Buchseite 44)
- „Die klassischen politischen Parteien können diesen radikalen Schritt nicht gehen, weil ihr Politikansatz nicht mehr in Passung mit den Notwendigkeiten der Realität steht.”
Und jetzt? Was ist die Lösung? Wie geht es weiter?
Viele fragen sich womöglich „Was kann ich schon allein ausrichten?“ oder sie sagen sich „Die da oben sind schuld!“ oder „Ich Ottonormalverbraucher habe doch gar keinen Einfluss!“ usw. Möglicherweise hast du dich schon der Apathie hingegeben, nachdem du bereits vor Monaten von der Ohnmachtswelle überrollt wurdest und liegst rat- und kraftlos am Boden ;)?
Zu diesen Themen finden sich ebenso nützliche Erfahrungen, ehrliche Antworten und Ideen im Buch, die helfen, die fokussierte Aufmerksamkeit zu lösen und einen erneuten frischen Versuch zu unternehmen.
Enden möchte ich mit weisen Worten von Ruth Cohn*, die mich in schwachen Momenten wieder aufrichten, sowie ein paar Literaturtipps:
„Ich bin verantwortlich für meine Anteilnahme und meine Handlungen, nicht aber für die der anderen.“
“Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich; Du kümmerst Dich um Deine, Du bist Du.
Die Welt ist unsere Aufgabe; sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein, wenn nicht, wird sie nicht sein.”
Wenn also jemand wieder eine kausale Lösung propagiert, die das bestehende System, das uns in die Krise geführt hat, nicht in Frage stellt, dann ist es relevant, ob und wie ich mich dazu verhalte.
Widerspreche ich dem dann? Fordere ich dann eine komplexere und transformative Antwort?
Was ist dein erster konkreter Schritt, dich um unsere Welt zu kümmern?
Literaturliste
- Hanno Burmester und Clemens Holtmann: Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt, Quadriga, 2021
- Rutger Bregman: Im Grunde gut, Rowohlt, 8. Auflage 2021
- Kate Raworth, Die Donutökonomie – Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört: Hanser, 4. Auflage 2020
- Enorm Magazin, kostenlos erhältlich https://enorm-magazin.de/
- Eine Art Glossar über die wichtigsten Begriffe der Klimakatastrophe bieten David Nelles und Christian Serrer: Kleine Gase – Große Wirkung – Der Klimawandel, eignet sich gut als Mitbringsel (Buch statt Pralinen)
- Eine kleine Übung zur Lösung festgefahrener Aufmerksamkeit findet ihr unter https://next‑u.de/2020/uebung-festgefahrene-aufmerksamkeit-loesen-wie-geht-das/
*(Quelle: Ruth Cohn Institute for TCI-international, Berlin)