Die Agile Gilde entwickelt nicht nur das Thema Organisationsentwicklung weiter und präsentieren sich dem Markt gegenüber mit dem Thema, sondern ist auch selbst ein Labor der Selbstorganisation und beispielsweise in Kreisen organisiert. Und so findet sich auf der Homepage der Gilde auch eine entsprechende Visualisierung eines Kreismodells. In diesem Beitrag berichte ich als Gildenmitglied über ausgewählte Erfahrungen und Einsichten aus den letzten 12 Monaten mit diesem Kreismodell.
Im Folgenden möchte ich die Organisationsstruktur der Gilde als inhaltlichen Kontext zumindest grundlegend erklären, kurz berichten, wie in der Gilde Kreise entstehen und vergehen und schließlich einige der daraus entstandenen Fragen und Einsichten teilen.
Die Kreisorganisation der Gilde ist schon in der Satzung verankert. Dort ist definiert, was ein Kreis ist, wie Kreise entstehen, wie Kreise entscheiden und wie damit Führung hergestellt werden soll, nämlich in der Weise, dass diesen Kreisen Führung und Verantwortung ermöglicht wird, statt Entscheidungsmacht beim Topkreis (TK ) zu häufen.
Einige grundlegende Kreise wurden mit der Gründung der Gilde geschaffen, die meisten entstanden dann später aus Initiativen von Mitgliedern. Jeder Kreis soll zumindest seinen Zweck formulieren, es soll klar sein, wer Mitglied ist und es sollen ein paar grundlegende Selbstorganisationsrollen vorhanden sein, bspw. eine Gastgeberin, Kreishüterin oder wie auch immer diese Rolle bezeichnet wird (hier Beispiele).
Andererseits sind wir eine rein ehrenamtliche Organisation, niemand wird für seine Rollen oder Kreismitarbeit in der Gilde bezahlt. Es gibt also entweder eine intrinsische Motivation oder es findet nicht statt. Das ist eine gute Ausgangssituation, um auszuprobieren, ob eine Kreisorganisation aus Eigenmotivation heraus gelebt werden kann und nicht nur, weil man als Organisationsmitglied dafür bezahlt oder angewiesen wird.
Wie entstehen in der Gilde Kreise?
Kreise entstehen spontan aus Initiativen der Mitglieder. Soweit so gut – aber formulieren und dokumentieren sie dann auch ihre Kreiskonstitution, ihren Zweck, ihre Rollen etc.? Oder fällt das hinten runter oder schläft wieder ein, weil es nachrangig oder gar lästige Bürokratie ist?
Um mein Fazit vorwegzunehmen: Auf einem (ausreichend) niedrigen Niveau funktioniert es tatsächlich. Dabei achten wir darauf, dass dies technisch auch einfach möglich ist. Als zentrale Kommunikationsplattform verwenden wir in der Gilde Slack mit einer eigenen kleinen Zusatz-App, die konstitutionelle Veränderungen automatisch verfolgt. Jedes Mitglied kann in Slack neue (offene oder geschlossene) Kommunikationskanäle (von Slack „Channels“ genannt) einrichten, was als potenzielle Kreisgründung gilt. Die Person, die den Channel anlegt, wird automatisch zur initialen Gastgeberin des Kreises und wird automatisch aufgefordert, den Zweck und weitere konstituierende Merkmale zu beschreiben. Und wer einem Slack-Channel beitritt oder eingeladen wird, wird automatisch als Kreismitglied identifiziert.
Das auf unserer Homepage dargestellte Kreismodell wiederum wird bei jedem Aufruf aktuell erzeugt und greift in Echtzeit auf diese Daten zu. Zusätzlich zum grafischen Kreismodell werden weitere grundlegende Informationen in einer Tabelle ausgegeben. Insoweit sorgt dieser Automatismus also erstmal für eine grundlegende Transparenz und Struktur (und falls Sie mal bemerkt haben, dass dort zeitweise auch mal halbgare Informationen stehen, wissen Sie jetzt, dass dies an der Live-Abbildung unserer Slack-Benutzung liegt).
Dann aber stellen sich weitere Fragen, über die ich hier eigentlich berichten möchte.
In welchen Ring gehört welcher Kreis?
Das Kreismodell folgt in seiner Struktur dem Modell der kollegialen Führung mit den Kategorien Wertschöpfungskreis, Dienstleistungskreis, Koordinationskreis, Praktikergruppe, Pool usw. Und hier beginnen die Fragen: Was ist eigentlich die Wertschöpfung der Gilde? In welchen Ring gehört der von mir gegründete Kreis?
Sehen wir uns hierzu mal ein reales Beispiel an: Ein Mitglied gründet einen Kreis, der sich mit dem Thema „Kollegiale Führung und agile Skalierungsmodelle“ (im Modell im „SKA“ abgekürzt) beschäftigt. Als Zweck des Kreises wird genannt: „Wir wollen uns mit dem Thema beschäftigen, wie KF und die skalierte Agilität zusammenwirken und wirksam werden können. Für uns Kreismitglieder zum Lernen, Wachsen und die kollegiale Beratung zur Reflexion von Fallbeispielen.“
Das klingt zunächst wie eine Praktikergruppe. Ein fachliches Thema steht im Mittelpunkt und die Mitglieder möchten sich hierzu austauschen. Der Kreis trifft keine relevanten Entscheidungen, ist also kein Koordinationskreis. Der Kreis unterstützt auch keine anderen Kreise, ist also kein Dienstleistungskreis. Er bietet auch selbst keine Leistungen nach Außen an, und wäre demnach also wohl auch kein Wertschöpfungskreis oder Pool. Dieser Logik folgend hatten wir den Kreis auch erstmal als Praktikergruppe einsortiert.
Die Verwendung eines Kreismodells regt immer auch wieder die Fragen an, was ist eigentlich die Wertschöpfung unserer Organisation und was die eines bestimmten Kreises?
Um uns den Antworten zu nähern, beginnen wir wieder bei der Satzung der Gilde, in der steht: „2. Zweck: 2.1 Die agile Gilde ist eine Gemeinschaft von Fachleuten für kollegiale Selbstorganisation und agile Organisationsentwicklung, die 2.1.a das Thema gemeinsam weiterentwickeln, 2.1.b sich beruflich gegenseitig unterstützen, 2.1.c gemeinsame Qualitätsstandards setzen, 2.1.d dem Markt eine qualitative und inhaltliche Orientierung bieten.“
Wertschöpfende Praktikergruppe?
Wenn also der Zweck der Gilde „Thema gemeinsam weiterentwickeln“ ist, dann zahlt der oben zitierte Zweck des Kreises „Kollegiale Führung und agile Skalierungsmodelle“ doch genau darauf ein – oder? Dann wäre dieser Kreis ein Wertschöpfungskreis. Mit der Einschränkung, dass nicht direkt Leistungen nach Außen verkauft und keine Umsätze erzielt werden. Als Verein wollen wir gar keinen Gewinn machen und streben im Gegenteil eher die Gemeinnützigkeit an – dem folgend hätten wir dann aber vermutlich kaum Wertschöpfungskreise.
Die Haupteinnahmen der Gilde sind die Mitgliedsbeiträge. Mitglieder zahlen diese Beiträge und sie erhoffen und bekommen dafür auch Leistungen, nämlich die, die im Zweck der Gilde auch beschrieben sind. Meine Standard-Testfrage zur Klärung der Wertschöpfung lautet: Würden die Kundinnen (hier: Mitglieder) es akzeptieren, wenn auf der (Beitrags-)Rechnung diese Leistungspositionen ausgewiesen würden? Sinngemäß also: Zahle x Euro Jahresbeitrag, dafür dass du im Kreis „Kollegiale Führung und agile Skalierungsmodelle“ mit Kolleginnen Fachgespräche führst und kollegiale Fallberatung erhältst. Ich glaube, die Mitglieder würden solche Rechnungspositionen im Prinzip akzeptieren.
Vermutlich haben wir damit also eine neue Kategorie gefunden: die „wertschöpfende Praktikergruppe“. Diese Kreiskategorie weist Merkmal von beiden auf. Der Einfachheit halber belassen wir es aber dabei und notieren den Kreis als Wertschöpfungskreis.
Bei anderen Kreisen liegt die Sache anders. Beispielsweise hat die Gilde einen (AK). Dieser erbringt vor allem eine rein interne Dienstleistung und kümmert sich um den Aufnahmeprozess neuer Mitglieder. Aber natürlich gibt es auch eine andere Facette, denn der Aufnahmekreis ist auch ein Erprobungsraum für Selbstorganisation. Der Kreis trifft vor allem Entscheidungen und stellt Mindestvoraussetzungen sicher. Seine Mitglieder befinden sich also regelmäßig in spannungsrelevanten Willensbildungs‑, Meinungs- und Entscheidungsprozessen und arbeiten hierzu komplett kollegial-selbstorganisiert und ohne vorgesetzte Führungskraft.
Der Kreis bietet allerlei Selbsterfahrungs- und Lernmöglichkeiten, in einer Kreisrolle, als Moderatorin von Entscheidungen usw. Diese Lernmöglichkeiten bilden auch einen Wert für Mitglieder, sind also irgendwie auch eine Wertschöpfung. Dieser Logik folgend wären vermutlich fast alle Kreise Wertschöpfungskreise, weil wir alle die Gilde auch zur Selbsterfahrung und „Fortbildung durch Tun“ nutzen. Deswegen ist es hilfreich, sich den primären Zweck des jeweiligen Kreises zu vergegenwärtigen. Beim Aufnahmekreis ist der Zweck sehr eindeutig eine interne Dienstleistung. Anders als beim Kreis „Kollegiale Führung und agile Skalierungsmodelle“.
Wann ist ein Kreis konstituiert?
Mit einem weiteren Beispiel möchte ich Unterschiede im zeitlichen Verlauf von Kreisgründungen verdeutlichen. Einige Kreise sind mit ihrer formalen Konstituierung ganz schnell fertig, das betrifft gerade die Praktikergruppen, die außer einem Namen, einen Zweck und einer Gastgeberin nicht viel brauchen. Als ganz anderes Beispiel möchte ich den „nennen. Das Gilden-Board ist der Führungsmonitor/Company-Board der Gilde. Die Gilden-Board-Treffen sind monatliche Mitgliederversammlungen, die bis auf wenige Ausnahmen ebenso beschlussfähig sind wie die ordentliche jährliche Versammlung. Der Gilden-Board-Kreis wiederum, der sich im Sommer 2020 gebildet hat, organisiert die monatlich stattfindenden Gilden-Board-Treffen, bestimmt also deren Termine, lädt ein und sorgt für die Moderation und Dokumentation dieser Treffen.
Beim Gilden-Board-Kreis zog sich die Konstitution in die Länge. Die Mitglieder des Kreises waren schnell gefunden, dann aber standen viele Detailfragen im Raum. Beispielsweise zu der Abgrenzung des Gilden-Board-Kreises von den Gilden-Board-Treffen, zu den zur Selbstorganisation notwendigen Rollen im Gilden-Board-Kreis, den für die Organisation der Gilden-Board-Treffen notwendigen Rollen, den notwendigen internen Prozessen und den Prinzipien, nach denen die Gilden-Board-Treffen organisiert werden sollten. Beispielsweise: Nach welchem Prinzip werden die Termine und jeweiligen Moderatorinnen bestimmt?
Jeweils im Abstand von mehreren Wochen wurde die Kreiskonstitution in jeweils ein- bis zweistündigen Arbeitstreffen fortgesetzt, ohne dass diese eindeutig abgeschlossen wurde. Nach den ersten beiden Treffen waren noch nicht alle Rollen benannt und noch keine Rolleninhaberinnen gewählt. Und auch nach dem dritten Treffen waren noch nicht alle von uns gesammelten Entscheidungsbedarfe abgehakt.
Erst kürzlich (fast ein halbes Jahr nach dem Auftakt) haben bei einer anderen Gelegenheit zufällig anwesende Kreismitglieder bei der Frage dazu festgestellt, „eigentlich sind wir ausreichend aufgestellt.“ Dies zeigt, dass die Konstituierungen je nach Kontext, Sinnrichtung, Rollen und Rollenträgerinnen ein fließender Prozess sind, die ich als typisch für die kollegiale Selbstorganisation erlebe.
Ein Mindestmaß an formaler Konstitution ist notwendig, weil sonst Intransparenz und Selbstüberlassung statt Selbstorganisation erwächst. Dies sollte jede Organisation und jedes Organisationsmitglied einfordern. Dazu zählt die Gastgeberinnen-Rolle und eine Klarheit, wer dem Kreis angehört (Zugehörigkeit). Moderationsrollen für die einzelnen Treffen sind meistens auch noch notwendig, um als Kreis ausreichend strukturiert und effizient zu arbeiten.
Darüber hinaus stellt sich dann die Frage, welchen weiteren Nutzen oder Zweck eine weitergehende Konstitution bewirken sollte? In unserem Buch „Agile Organisationsentwicklung“ (Seiten 126 und 133) nennen wir weitere mögliche Elemente, bis hin zur ökonomischen Transparenz. Welche weiteren Elemente hilfreich sind, ist individuell zu beantworten. Bei einer (wertschöpfenden) Praktikergruppe gibt es wenig weiteren Bedarf. Ganz anders beim Gilden-Board-Kreis. Das Gilden-Board ist eine Erweiterung eines formalen Vereinsorgans (der Mitgliederversammlung), dass Entscheidungen für die Gilde treffen kann. Diese müssen auch rechtlich sauber geregelt sein. Das Vereinsrecht und die Satzung definieren dazu Anforderungen. Beispielsweise gibt es eine Einladungsfrist und die verpflichtende Rolle der Versammlungsleitung für Mitgliederversammlungen. Wie dies kollegial organisiert wird, sollte also belastbar geklärt sein.
Für Führung sorgen, statt selbst zu führen
Der Topkreis (Vorstand) unserer Gilde arbeitet in dem Selbstverständnis, möglichst wenig selbst zu entscheiden und zu führen, sondern nur dafür zu sorgen, dass ausreichend Entscheidungen und Führung entstehen. Wir (ich bin dort Mitglied) beobachten also eher, welche Kreise entstehen und unterstützen Kreise bedarfsweise, wenn wir das Gefühl haben, dass die vorhandenen Organisationselemente eines Kreises (Strukturen, Prozesse, Artefakte) nicht ausreichen.
Mit der wachsenden Mitgliederzahl sind in den letzten Monaten viele neue Kreise entstanden. Dienstleistungskreise mit vorwiegend wenigen Mitgliedern, die fokussiert bestimmte Aufgaben leisten, und Geschäftskreise, von denen manche sehr viele Mitglieder haben. Die Gilde hat sich jetzt grundlegend selbst organisiert und die vorhandenen Prozesse und Strukturen funktionieren ganz passabel – so dass jetzt die Zeit für erste Reflexionen, Lernschleifen, Anpassungen und neue Expeditionen naht.
Bernd Oestereich