Soziokratie ist ein Begriff, der immer mal wieder fällt, wenn es um moderne Entscheidungsarchitekturen für Unternehmen geht. Die soziokratische Kreisorganisation ist eine Alternative zur pyramidenförmigen Linienorganisation und zu deren Top-down-Entscheidungspraktiken. Wie genau sie funktioniert und wie sie aufgebaut ist, erläutert dieser Beitrag.
Die Soziokratie als verbesserte Form der Demokratie wurde vom niederländischen Reformpädagogen Kees Boeke (gesprochen „Büke“ und nicht „Böke“) begründet. Er schilderte das Konzept 1946 in seinem Buch Redelijke ordening von de mensengemeenschap (etwa: Vernünftige Ordnung der menschlichen Gemeinschaft). Seine Frau erzählte später, dass ihr Mann die Grundprinzipien kurz vor Kriegsende 1945 in einem Essay mit dem Titel „Geen Dictatuur!“, also „Keine Diktatur!“ formulierte, den er in seiner Manteltasche mit sich trug und deshalb beinahe von den Nazis erschossen wurde. Ganz allein aus den Fingern gesaugt hat sich Boeke das Konzept nicht. Er wurde vom konsensbasierten Entscheidungsprinzip der Quäker, deren Glaubensgemeinschaft er angehörte, und vom französischen Philosophen Auguste Comte inspiriert. Das Wort Soziokratie selbst leitet sich aus dem lateinischen „socius“ (gemeinsam, verbunden) und dem griechischen „krateia“ (Herrschaft) ab.
Bei der Veröffentlichung hatte Boeke schon 30 Jahre Erfahrung mit Soziokratie: Seine 1916 gegründete Reformschule (WerkplaatsKindergemeenschap) war von diesen Haltungen und Werten geprägt. Interessanterweise schickte das niederländische Königshaus drei seiner Töchter, nämlich Beatrix, Irene und Magriet, auf seine Schule. Ein anderer Schüler, der später die Ideen von Kees Boeke adaptierte und weiter entwickelte, war Gerald Endenburg.
Endenburg bemerkte bei seinem Wechsel von der Reformschule auf eine traditionell organisierte Universität, er studierte Elektrotechnik, dass die dortigen Studenten weniger Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernahmen, sondern sich auf die Erfüllung von Vorgaben und fremden Zielen konzentrierten. 1968 übernahm er von seinen Eltern das bis heute existierende Unternehmen Endenburg Elektrotechniek BV. Immer noch inspiriert von Kees Boeke und der Soziokratie krempelte er, 36 Jahre alt, das Unternehmen zwei Jahre später um. Top-Down-Entscheidungen wollte er ebenso vermeiden wie demokratische Abstimmungen, bei denen selten die beste Lösung herauskommt und oft viele Beteiligte unzufrieden zurück bleiben. So entwickelte er schließlich die soziokratische Kreisorganisation. Das Unternehmen wuchs auf 150 Mitarbeiter an. Endenburg gründete 1974 das Soziokratische Zentrum in Rotterdam mit der Mission, die soziokratischen Prinzipien weiter zu entwickeln, er promovierte zum Thema und wurde Professor.
Die soziokratische Kreisorganisation basiert auf vier Prinzipien, die ich im folgenden erkläre.
Konsent: Einwandintegration statt Mehrheitsbeschaffung
„Konsent“ ist kein Tippfehler, sondern eine bewusste Begriffswahl. Glücklicherweise ist Sprache ja ein sich entwickelndes Gut. Im Englischen lassen sich consent und consensus unterscheiden. Ins Deutsche werden die Begriffe aber üblicherweise einheitlich mit Konsens übersetzt und der Unterschied damit aufgehoben. Vielleicht wären „demokratischer Konsens“ versus „soziokratischer Konsens“ eine fürs Deutsche passende Unterscheidung. Die Übersetzerin und Soziokratie-Aktivistin Isabell Dierkes entschied sich aber dafür, ein neues Wort zu kreieren: Konsent. Die Unterscheidung „Konsens“ (= demokratisch) versus „Konsent“ (= soziokratisch) ist viel einfacher und prägnanter. Tatsächlich unterscheidet sich der soziokratische Konsent vom demokratischen Konsens nicht nur in der Art, wie er zustande kommt, sondern auch in seiner Qualität.
In normalen demokratischen Entscheidungen lautet die Frage immer: Wer ist dafür? Dementsprechend versuchen die Parteien die Zustimmung zu einer Entscheidung zu maximieren. Je nach Verfassung sind bestimmte relative oder absolute Mehrheiten erforderlich. Auf Minderheitsbedürfnisse wird gewöhnlich wenig Rücksicht genommen. Bei knappen oder fehlenden Mehrheiten ist es in der Praxis üblich, weitere Stimmen dadurch zu gewinnen, dass man Kompensationsgeschäfte anbietet oder androht, beispielsweise Vor- oder Nachteile bei anderen anstehenden Entscheidungen. Die typische Ergebnisqualität dieses Willensbildungsverfahren beobachten wir täglich in der Politik.
Bei soziokratischen Entscheidungen hingegen lautet die Frage: Welche Einwände gibt es? Wie viele Personen einen Einwand haben, ist dabei weniger wichtig als der Inhalt des Einwands. Das Argument zählt, nicht die Stimme. Anschließend versuchen alle Beteiligten gemeinsam, die Einwände zu minimieren, also die Lösung zu variieren oder möglicherweise nach ganz neuen Lösungen zu suchen, so dass weniger oder gar keine Einwände mehr übrig bleiben.
Ein wichtiger Unterschied zwischen einer demokratischen und einer soziokratischen Wahl besteht also darin, dass bei der soziokratischen Wahl die Beteiligten sehr viel stärker in die inhaltliche (Weiter-)Entwicklung der Entscheidungen eingebunden sind und nicht nur Stimmvieh sind. Wer einen Einwand äußert, ist auch aufgefordert daran mitzuwirken, diesen Einwand aufzulösen. Er wird mit der Frage konfrontiert: Wie kann die Lösung denn so verändert werden, dass dein Einwand entfällt oder schwächer wird? Oder wie müsste die Lösung aussehen, dass du keinen schwerwiegenden Einwand mehr hast?
Anders ausgedrückt geht es stets darum, mögliche Einwände in die Lösung zu integrieren. Es wird nicht nur entschieden, sondern eben auch an der Qualität der Lösung gearbeitet.
Die eigentliche Entscheidung basiert auf Vetofreiheit, d.h. solange auch nur eine Person ein Veto hat, ist die Entscheidung nicht akzeptiert. Mit anderen Worten: Die Soziokratie strebt nach einwandfreien Entscheidungen.
Typischerweise gibt es verschiedene Grade von Einwänden. Das Veto ist dabei der stärkste Einwand. Typisch sind aber auch „Ich habe einen wichtigen Einwand, aber ich möchte die Entscheidung nicht blockieren“ oder „Ich habe einen relevanten Einwand, aber trotzdem ist diese Entscheidung besser, als bei der aktuellen Situation zu bleiben.“
Die Alternative zu einer Entscheidung ist immer die Ist-Situation. Es geht also weniger darum, ob oder wie gut eine Entscheidung an sich ist, sondern wie sie im Vergleich zur Ist-Situation bewertet wird. Das ist bei demokratischen Entscheidungen zwar auch so, das Bewusstsein davon ist bei soziokratischen Entscheidungen aber typischerweise präsenter, weil jeder Einzelne alleine mit einem Veto das Beibehalten des Ist-Zustands erzwingen könnte.
Das heißt nun aber nicht, dass bei einer soziokratischen Entscheidung Personen dazu neigen, einer Lösung zuzustimmen, die sie eigentlich nicht gut finden – nur weil alles besser scheint als der Status quo. Es gibt nicht nur entweder-oder. Bei demokratischen Entscheidungen ist es möglich, mehrere Alternativen zur Wahl zu stellen und die mit den meisten Zustimmungen gewinnen zu lassen. Dieses Verfahren kann als unverbindliche Abfrage auch in einem soziokratischen Kontext interessant sein, um eine Entscheidung zwischen Alternativen zu vereinfachen, bei denen kaum Vetos erwartet werden, oder um eine sinnvolle Entscheidungsreihenfolge zu finden.
Grundsätzlich wird immer genau eine Entscheidung auf einmal bearbeitet, und es liegt gewöhnlich am Moderator, in welcher Reihenfolge die möglichen Alternativen zur Wahl kommen. Prinzipiell denkbar sind auch sequentielle Entscheidungen, bei der mit einer ersten Entscheidung eine Verbesserung gegenüber dem Ist-Zustand erreicht wird und gleich danach mit einer weiteren Entscheidung versucht wird, diesen neuen Zustand nochmals zu verbessern. Das heißt, die eigentlich alternativen Entscheidungen werden aufsteigend nach dem Grad ihrer Gesamteinwände geordnet und nacheinander bearbeitet.
Das soziokratische Prinzip erlaubt den Beteiligten darüber hinaus auch, sich im Konsent für andere Entscheidungsverfahren wie Münzwurf, relative Mehrheit, Diktatur und vor allem den konsultativen Einzelentscheid zu entscheiden. Dazu später mehr.
Kreisprinzip: Führungskreise statt Abteilungen, Führungsarbeit statt Führungskräfte
In traditionellen Linienorganisationen werden Abteilungen für bestimmte Zuständigkeitsbereiche gebildet, die von einer eigens dafür bestimmten Führungskraft geleitet werden. Die Verantwortung für die Entscheidung liegt stets bei dieser Führungskraft – auch wenn diese selbstverständlich ihre Mitarbeiter in Entscheidungen einbinden kann.
In einem soziokratischen Führungskreis hingegen teilen sich alle Kreismitglieder die Verantwortung. Jeder leistet einen Teil der Führungsarbeit. Zum einen dadurch, dass der Kreis mit Hilfe des Konsent-Prinzips gemeinsam direkt Entscheidungen trifft. Zum anderen aber auch dadurch, dass der Kreis bestimmte Aspekte und Teilzuständigkeiten an einzelne Mitglieder (hier auch: konsultativer Einzelentscheid) delegiert bzw. Rollen definiert und Rolleninhaber wählt.
Dadurch kann beispielsweise eine Person als Repräsentant für einen Oberkreis gewählt sein, eine andere Person die Koordination der Kreisinteressen mit einem anderen (Nachbar-)Kreis wahrnehmen (siehe hierzu das 3. Prinzip der Doppelverbinder) und noch eine andere Person vielleicht als allgemeiner Ansprechpartner für alle Außenstehenden zu einer bestimmten Fragestellung definiert werden.
Der Kreis organisiert sich selbst und bestimmt selbst, welche Rollen, Ansprechpartner, Teilzuständigkeiten und Delegationen er haben möchte, wie und wo sich der Kreis trifft, wer Mitglied im Kreis sein darf etc. Anders als bei Abteilungen kann eine Person in mehreren Kreisen Mitglied sein. Kreise können zudem hierarchisch organisiert sein, d.h. ein Kreis kann mehrere Unterkreise für bestimmte Verantwortungsbereiche bilden.
Gegenüber dem Abteilungsprinzip führt das Kreisprinzip dazu, dass Entscheidungen unmittelbarer und lokaler getroffen werden. Eine hierarchische Linienorganisation fördert das Prinzip „Oben wird gedacht und unten wird gemacht“, d.h. das Wissen von der Basis fließt von unten nach oben, wird dabei verdichtet und verfälscht, damit die Führungskräfte dann zentral Entscheidungen treffen und verantworten können. Das Kreisprinzip fördert hingegen, das Denken und Handeln nahe beieinander bleiben, in dem die Betroffenen selbst Entscheidungen initiieren und verantworten können.
Es wäre schön, behaupten zu können, dass die so getroffenen Entscheidungen das Wohl aller bestmöglich berücksichtigen. Aber selbstverständlich können auch hier Interessenskonflikte auftauchen. Die Kreise dienen der Gesamtorganisation, sind also letztendlich dem Unternehmenszweck und den Unternehmenszielen unterworfen. Dennoch haben alle beteiligten Personen selbstverständlich auch Eigeninteressen. So wie auch in traditionellen Linienorganisationen die Führungskräfte nicht rein sachlich und objektiv entscheiden, sondern auch von ihren Ängsten, Interessen, Bedürfnissen etc. beeinflusst sind, so treffen auch in einer soziokratischen Kreisstruktur individuelle und gemeinschaftliche Interessen aufeinander.
Am deutlichsten wird dies bei schwerwiegenden Entscheidungen mit massiven persönlichen Konsequenzen. Wenn beispielsweise in einer wirtschaftlichen Krisensituation Mitarbeitereinkommen nicht mehr bezahlt werden können. Oder wenn Geschäftsbereiche aufgegeben werden sollen und es an Ideen mangelt, die betroffenen Mitarbeiter anderweitig in eine Wertschöpfung zu bringen. Zunächst einmal gilt es auch und gerade in solchen existentiellen Situationen dem Konsent-Prinzip zu folgen. Denn gerade in solchen Situationen sind gute Ideen gefragt. So konnte Endenburg Elektrotechniek 1976 eine Krise mit 60 drohenden Entlassungen dadurch meistern, dass die Mitarbeiter eigene Vertriebs- und Marketingideen entwickelten und eigenverantwortlich umsetzten. Aber was ist für den Fall, dass auch dies nicht ausreicht? Wenn nicht genug Ideen vorhanden sind oder sich diese nicht erfolgreich genug umsetzen lassen?
Kann im Konsent darüber entschieden werden, einen nennenswerten Teil der Betroffenen betriebsbedingt zu kündigen? Kann man von den Betroffenen erwarten, dass sie auch dann noch im Unternehmensinteresse handeln, wenn sie selbst dadurch aus dem Unternehmen fallen? Die Wahrscheinlichkeit, zu solchen Fragen eine einwandfreie oder gar vetofreie Entscheidung zu erzielen, ist offensichtlich gering.
Die Absicht, durch gute Moderation des Entscheidungsprozesses immer wieder auf die Unternehmensinteressen zu refokussieren und das Persönliche auszublenden (wie dies bspw. im Holacracy-Einwandintegrationsverfahren angestrebt wird), finde ich nicht überzeugend, weil sie an der Integrität und Authentizität der Individuen zerrt. Für solche und ähnliche schwierige Situationen gibt es eine alternative, zweistufige Entscheidungsfindungsmethode: den konsultativen Einzelentscheid. Dabei wird zuerst im Konsent eine Person gewählt, die im zweiten Schritt dann zwar die verschiedenen Interessen und Ideen wahrnimmt und würdigt, letztendlich die Entscheidung aber alleine und für alle anderen verbindlich trifft. Dieser Einzelentscheider kann im Zweifelsfall auch eine kreisfremde Person sein oder gar eine unternehmensfremde Person – ähnlich wie bei Schlichtungsverfahren. Kurz: immer dann, wenn die Kreismitglieder erkennen, dass sie zwar eine Entscheidung brauchen, aber eine direkte soziokratische Entscheidung unwahrscheinlich (ineffektiv) oder zu zeitraubend (ineffizient) erscheint, liegt der konsultative Einzelentscheid als Alternative nahe.
Prinzip Doppelverbinder
Wie schon erwähnt, kann ein soziokratischer Kreis sich so strukturieren, dass er mehrere Unterkreise bildet. Sie existieren aber nicht unverbunden nebeneinander, sondern verbinden sich durch Repräsentanten. Das Doppelverbinder-Prinzip besagt, dass hierbei nicht nur jemand aus einem Oberkreis einen Unterkreis koordiniert oder führt, sondern dass ebenso der Unterkreis einen Repräsentanten in den Oberkreis entsendet. Und das diese beiden Verbinder selbstverständlich verschiedene Personen sind. Dadurch sind immer mindestens zwei Personen in beiden der verbundenen Kreise.
In einem Kreis hat jedes Mitglied das gleiche Stimmengewicht, so dass die über Entscheidungsstimmen ausgeübte Macht beim soziokratischen Kreismodell nicht nur von oben nach unten, sondern ebenso auch von unten nach oben verläuft. Wenn die Kreise pyramidenförmig differenziert werden, also ein Kreis typischerweise mehrere Unterkreise hat, sind die Vertreter der Unterkreise im Oberkreis sogar in der Mehrheit. Zusammen mit dem Konsentprinzip ist damit sichergestellt, dass die Interessen, Bedürfnisse und Ideen der Unterkreise über ihre Repräsentanten absoluten Einfluss ausüben. Wegen der Vetomöglichkeit von unten kann die Macht von oben alleine nicht wirksam werden.
Insofern lassen sich mit dem Doppelverbinder-Prinzip auch hierarchische Pyramidenstrukturen betreiben – nur das hierbei aus Sicht der Machtverteilung die Pyramide auf dem Kopf steht.
Das soziokratische Kreismodell unterstützt also eine – aus meiner Sicht grundsätzlich sinnvolle und hilfreiche – Hierarchisierung der Entscheidungs‑, Willensbildungs- und Führungsstrukturen. Hierarchie wird zwar oftmals leichtfertig verteufelt, gemeint sind dann aber meistens die oben bereits genannten negativen Aspekte wie beispielsweise die Trennung von Denken und Handeln oder die Richtung des Machtgefälles. In sozialen Systemen bilden Menschen Hierarchien aus. Immer. Wenn man Macht als etwas begreift, wo ein Mensch einem anderen vertrauensvoll Macht über sich zubilligt, dann ist naheliegend, dass Macht ebenso ungleich und unstetig verteilt ist, wie Vertrauen sich entwickelt. Problematisch wird Hierarchie immer dann, wenn die formale und offizielle Hierarchie nicht zu der als angemessen empfundenen passt oder sie nicht (mehr) an den Inhalten orientiert ist. In Linienorganisationen, in denen die Hierarchie pyramidenförmig von oben nach unten an Rollen und Personen orientiert aufgebaut wird, ist es wahrscheinlicher, dass diese im Widerspruch zur der von unten nach oben verlaufenden sozialen Legitimation von Macht steht.
Das soziokratische Kreismodell dagegen strukturiert die Hierarchie stärker entlang der Inhalte und Zuständigkeiten, und erst aus dieser hierarchischen Struktur heraus bilden dann die Kreise ihre Rollen und wählen die Rollenträger. Das kommt der sozialen Realität meistens näher.
Sofern Repräsentanten aber nicht nur entlang der vertikalen Hierarchie eingesetzt werden, sondern auch zwischen benachbarten bzw. bedarfsweise mit beliebigen anderen Kreisen eingesetzt werden, lässt sich ebenso eine dynamische Netzwerkstruktur erzeugen. Aus meiner Sicht ist der Austausch von Repräsentanten zwischen Kreisen immer dann sinnvoll, wenn sie einen stetigen und hohen Kooperations- oder Koordinationsbedarf haben.
Andererseits kann das Doppelverbinder-Prinzip auch aufwändig werden, zu sehr großen Kreisen führen und sich bürokratisch anfühlen. Deswegen finde ich es legitim, wenn einzelne Kreise für sich entscheiden, an bestimmten Stellen nur einseitige Repräsentanzen zu unterhalten, beispielsweise nur von unten nach oben. Das soziokratische Modell kann also ganz pragmatisch gehandhabt werden.
Wie lässt sich ein soziokratisches Kreismodell in eine traditionelle Linienorganisation einführen? Da das soziokratische Kreismodell auch hierarchisch gegliedert werden kann, ist es möglich, eine bestehende Linien- und Abteilungsorganisation durch ein soziokratisches Kreismodell zu überlagern. Beispielsweise, indem die operative Arbeitsteilung weiterhin abteilungsmäßig organisiert ist und die Führung und Entscheidungen (vom gleichen oder ähnlichen Personenkreis) in Kreisen. Auch kann bei einem Wechsel vom Abteilungs- zum Kreismodell die Abteilungsstruktur als initiale Struktur und Vorlage für das Kreismodell verwendet werden.
Prinzip Personenwahl
Dieses Prinzip wurde in den vorangegangenen Ausführungen schon erwähnt: Wer welche Rollen oder Entscheidungen übernimmt, wird im Konsent entschieden. Rollen und Verantwortung können situativ für einzelne Entscheidungsbedarfe übertragen werden (wie beim konsultativen Einzelentscheid), auf Zeit vergeben werden und ebenso jederzeit auch neubestimmt oder aufgehoben werden.
Praxis
In der Literatur und im Internet finden sich viele Hinweise auf kleine und große Unternehmen, die das soziokratische Kreismodell in der einen oder anderen Weise anwenden. Aus der Praxis kenne ich unterschiedliche Ausprägungen und Interpretationen des Modells, die jedoch von den gleichen Werten getragen werden. Exemplarisch möchte ich die Praxis bei oose skizzieren, wo ich die Einführung des Kreismodells Ende 2012 initiiert hatte.
Bei oose orientierten wir uns zunächst an Holacracy, einem ganz ähnlichen Modell, das mir persönlich aber mittlerweile ein wenig zu bürokratisch und markenrechtlich zu kommerzialisiert erscheint. Angesichts der Konzepte und Prinzipien, die wir mittlerweile tatsächlich nutzen, sind wir vermutlich dem soziokratischen Kreismodell näher. Unsere kurzen eigenen Erfahrungen finde ich ebenso ermutigend wie herausfordernd. Wir spüren und freuen uns über Nutzen und Wirkung, beispielsweise schnellere geschäftliche Entscheidungen oder Entscheidungen zur Neueinstellung von Mitarbeitern. Mitarbeiter in der direkten Wertschöpfung und mit unmittelbarer Nähe zum Markt treffen die geschäftlich relevanten Entscheidungen. Wir funktionieren also (siehe Abbildung Pfirsichmodell) mehr von außen nach innen getrieben, als von oben nach unten. Ebenso merken wir, dass wir Vieles erst noch üben, ausprobieren und adaptieren müssen. Vielleicht hört dieser Lernprozess aber auch nie auf. Für eine objektive und gar quantifizierbare Erfolgsbewertung ist es bei uns vermutlich zu früh.
Unsere Kreise sind hierarchisch von innen nach außen in drei (teilweise vier) Ebenen aufgebaut. Wo immer sinnvoll folgen wir dem Konsent-Prinzip und ebenso dem Personenwahl-Prinzip. Doppelverbinder nutzen wir aus Pragmatismus nicht mehr. Wir sind ein kleines Unternehmen mit zahlreichen Gelegenheiten und Ritualen zum internen persönlichen und fachlichen Austausch, weswegen wir in den Doppelverbindern vielleicht nicht genug Zusatznutzen sehen.
Wie schon gesagt, wird das Kreismodell auch oft als Überlagerung einer bestehenden Abteilungsstruktur gesehen: Kreise für die Führung und Abteilungen für die operative Arbeit. Bei oose verzichten wir formal auf Abteilungen und konzentrieren uns ausschließlich auf die Führungsaspekte. Die operative Arbeit ergibt sich von alleine. Soweit bei oose Abteilungsgefühle existieren, ergeben diese sich mehr durch die faktische räumliche Nähe von KollegInnen.
Bisher verläuft das Experiment soziokratische Kreisorganisation bei oose ermutigend.