Die Kommunikation von Organisationsentwicklungsvorhaben wirft immer wieder zahlreiche Fragen auf. Jede Ankündigung von Veränderungen löst viele Fragen bei den Mitarbeitenden aus, verunsichert oder wird gar nicht mehr ernst genommen. Als Organisationsbegleiter habe ich immer wieder unterschiedliche Vorgehensweisen und Kommunikationsstrategien ausprobieren lassen. In diesem Beitrag möchte ich über eine einfache und minimalistische Strategie berichten.
Wenn ich im folgenden Text über Organisationsentwicklung schreibe, dann bezieht sich dies auf das Modell der Kollegialen Führung, dessen fundierte Kenntnis ich hier voraussetze. Das Modell ist eine Sammlung von aufeinander abgestimmten Prinzipien, Konzepten, Werkzeugen, Vorlagen und Werten, die als Baukastensystem immer wieder zu individuellen Ausprägungen führen – es gibt also keine Blaupause, keinen Masterplan, sondern eher unterschiedlich detaillierte Landkarten zur individuellen Navigation.
Dennoch wünschen sich viele Beteiligte so einen Masterplan und möchten verstehen, was in welcher Weise wo, von wem und warum verändert werden soll. Erst recht, wenn hierfür jetzt bedeutungsvolle Begriffe wie Transformation oder Transition verwendet werden.
Zeitliche Einordnung
Zunächst möchte ich das Thema der internen Kommunikation der Organisationsentwicklung zeitlich einordnen, weil ich hier nur auf einen ganz bestimmten Abschnitt fokussieren möchte und zwar auf die Orientierungsphase.
Die beginnt damit, dass die Führungsebene oberhalb der betroffenen Organisationseinheit den Organisationsmitgliedern erklärt, wozu überhaupt eine Entwicklung gewünscht wird, und endet oft mit dem Start eines Transformationsteams (auch Selbstorganisationskreis, Übergangskreis oder anders genannt).
Bevor die Führungskräfte (bspw. Inhaber-Geschäftsführerinnen) die Wozu-Frage nicht klar beantworten können, sollte überhaupt keine Kommunikation über eine mögliche Organisationsentwicklung stattfinden. Aber auch danach sollte noch gewartet werden, denn die Gründe, Absichten und was anders werden soll, sind zunächst in eine anschlussfähige Sprache zu übersetzen. Typischerweise verwenden Führungskräfte spezielle Begriffe und Konzepte, die die Mitarbeitenden nicht ohne weiteres in ihre Arbeitsrealität einordnen können.
Bereits unter “agil” stellt sich jede etwas anderes vor: Für eine Führungskraft ist es möglicherweise Scrum, für einen Coach etwas Systemisches, für einen Berater die Systemtheorie, der Finanzvorständin geht es um Effizienz, für den Vertriebler um Produktinnovation und die Inhaberin meint vielleicht die Werte der Arbeits- und Organisationskultur. Aber was genau bedeutet das nun für den Arbeitsalltag der Menschen in der direkten Wertschöpfung?
Dieser vorbereitende Teil der Kommunikation, also das Finden der passenden Begriffe, Metaphern und Narrative, ist ein eigenes Thema, das ich in diesem Beitrag nicht vertiefen möchte.
Wenn das Sicherheitsbedürfnis steigt und die Fragen kommen
Nachdem das Wozu halbwegs verstanden wurde, kommen die Fragen nach dem Was und dem Wie: Was genau wird sich wie in meinem Arbeitsbereich, meinem Team, meiner Rolle etc. ändern? Da wir hier nicht von einem klassischen Change-Projekt sprechen, sondern von agiler Organisationsentwicklung, lässt sich diese Frage prinzipiell gar nicht konkret beantworten.
Agile Organisationsentwicklung ist
- die schrittweise empirische (Weiter-)Entwicklung einer Organisation
- durch kontinuierliche praktische Erprobungen einzelner Veränderungen
- mit anschließender Nutzenbewertung und Fortführungsentscheidung
- in einem systemisch-integralen Wertesystem und
- mit kollegial-selbstorganisierten Führungs- und Organisationsprinzipien.
So lautet die Definition aus unserem Buch “Agile Organisationsentwicklung”. Reorganisationen haben die meisten Mitarbeiterinnen schon oft genug erlebt und deshalb bilden sie auch den Erfahrungsrahmen für die Fragen nach dem Was und dem Wie. Dass eine agile Organisationsentwicklung anders als eine anlassbezogene Reorganisation ein kontinuierlich ablaufender kleinschrittiger, empirischer und ergebnisoffener Prozess ist, ist in der Regel unbekannt, nur abstrakt verständlich, schwer vorstellbar und oft zusätzlich irritierend.
Wenn Fragen und Bedürfnisse dazu dann mit den üblichen Management- und Beraterinnen-Phrasen beantwortet werden (die obige Definition würde ich dazu rechnen […]), wird es nicht besser. Meiner Erfahrung nach beginnen dann Fragen und Erklärungen den Prozess zu dominieren, statt dass ins praktische Ausprobieren gekommen wird.
Welche Prinzipien gelten beim Ablauf?
Wenn Claudia Schröder und ich Organisationen beim Aufbau agiler und kollegialer Organisationsprinzipien begleiten, verzichten wir auf größere Vorab-Schulungen. Schulungen zu komplexen Themen der Organisationsentwicklung, selbst wenn es beispielsweise praktische Werkzeuge wie Entscheidungsverfahren betrifft, bewirken meistens, dass mehr neue Fragen entstehen, als dass vorhandene beantwortet werden.
Das gilt umso mehr, als dass eben auch jede Organisation ihre eigenen Umsetzungen der Prinzipien und eigenen Adaptionen bestimmter Praktiken finden muss. Auf dem Papier klingt eine kollegiale Rollenwahl oder eine Widerstandsabfrage einfach. In der Praxis laufen dann (nach ein wenig Übung) die meisten Alltagsfälle auch ganz einfach. Das gilt aber weniger für den Transfer vom Papier in die Praxis im Rahmen von Schulungen.
In der Praxis einer konkreten Organisation existieren stets zahlreiche Besonderheiten, die eine spezifische Handhabung erfordern. Beispiele: Schichtbetrieb, Zeitdruck, Compliance-Restriktionen, sprachliche Hürden, verteilte Standorte/Arbeitsplätze, zu kleine oder unruhige Treffpunkte, hoher Krankenstand, Einbeziehung von Teilzeitkräften, externen Freiberuflern, Zeitarbeitskräften, herausfordernde Einzelpersonen, Quotenregelungen, Kontextüberlagerungen, Wettbewerbsdenken, mangelndes Vertrauen etc.
Es kommen dann immer die “Was ist, wenn […]?”-Fragen. Bei Wahlverfahren bspw. “[…] zwei Personen den gleichen Widerstandswert erhalten”, “[…] sie die Wahl nicht annehmen”, “[…] nicht alle dabei sein können”, “[…] doch wieder die immer gleichen Personen gewählt werden” und so weiter. Lauter Fragen, von denen die erfahrene Coachin und Praktikerin weiß, dass sie in der Praxis gar nicht so relevant sind oder wie sie in einfacher Weise gehandhabt werden können, was sich Unerfahrene aber wenig vorstellen können.
Auftrag und Vertrauensvorschuss nutzen
Der einfachere Weg ist, sich als Organisationsbegleiterin von Anfang an für eine andere Vorgehensweise beauftragen zu lassen, die da lautet: Wenn irgendwo ein Bedarf oder eine Gelegenheit für neue Praktiken entsteht, wähle ich als Organisationsbegleiterin die passenden Prinzipien, Praktiken, Struktur- und Prozesselemente und führe (moderiere, coache) die Beteiligten durch den Prozess und leite sie an. Und natürlich wähle ich auf Basis meines Erfahrungswissens eine Ausprägung oder Variante, die dem spezifischen Anwendungsfall gerecht wird. Erst danach erkläre ich dann möglicherweise die Begriffe, Konzepte, Prinzipien oder Theorien dazu.
Manchmal kommen dann trotzdem noch Was-ist-wenn-Fragen. Die beantworte ich dann auf die Erprobung verweisend: “Ja mal sehen, wird schon irgendwie passen, ich glaube, es geht trotzdem, lassen Sie uns doch hinterher nochmal darüber sprechen.” Oder ich frage zurück: “Ich weiß es nicht genau, aber würden Sie mitmachen und es einmal an einem einfachen Beispiel unter meiner Anleitung ausprobieren?”. Oder: “Das ist ein wichtiger Aspekt, den wir handhaben müssen. Vielleicht können Sie die Frage nach dem Ausprobieren noch einmal ansprechen, wenn sie offenblieb?”
Das Grundprinzip unserer Organisationsbegleitung lautet: Die Organisationsmitglieder entscheiden alles, was ihre Fachlichkeit und Wertschöpfung angeht und ich als Organisationsbegleiter arbeite weitgehend nur auf der Prozessebene. Immer dort wo es aber um Organisations- und Führungsprinzipien geht, trete ich als Beraterin auf und entscheide (gerne konsultativ oder aus Vorschlägen auswählen lassend) den nächsten Erprobungsschritt, den ich dann meistens auch moderiere. Erst danach frage ich die Organisationsmitglieder nach dem Nutzen der Erprobung und was es braucht, damit sie die neuen Praktiken künftig möglichst personenunabhängig und aus eigener Kraft weiter betreiben und entwickeln oder innerhalb der Organisation weitergeben können.
Zusammenfassung: Erst probieren, dann erklären
Ich beobachte oft (und auch immer mal wieder bei mir), dass Beraterinnen sich bemühen, die kommenden Veränderungen und Interventionen vorab zu erklären, Fragen dazu zu beantworten, Schulungen dazu zu geben etc. um eine größtmögliche Akzeptanz und Anschlussfähigkeit herzustellen. Dazu passt auch, dass ich von Beraterinnen oft die Frage höre: “Und wie gehst du dann mit Widerständen um?”
Eine Möglichkeit das zu vermeiden ist, ganz bewusst nichts vorab zu erklären, sondern einfach zu sagen: „Wir probieren jetzt mal (unter meiner Anleitung) etwas Neues aus und hinterher sagt ihr mir, ob das nützlich war. Ob und wie sich eure Organisation ändert und entwickelt entscheidet ihr immer erst, wenn ihr etwas erfolgreich ausprobiert habt.
In welche Richtung sich eure Organisation entwickelt, was sich wie für wen ändert, kann ich euch deswegen gar nicht sagen. Es gibt keinen Vorabplan. Wir probieren hier und da etwas Neues aus und wenn etwas Nützliches dabei ist, dann klärt ihr, ob und wie ihr dies dauerhaft in eure Arbeit integrieren könnt.“
Agile Organisationsentwicklung bedeutet, die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit/Flexibilität einer Organisation zu erhöhen und beruht auf der Annahme, dass die meisten Herausforderungen und Anwendungsfälle dafür so komplex sind, dass niemand vorher die richtige Maßnahme bestimmen kann und deswegen ein empirisches Vorgehen notwendig ist.
Wichtiger, als die „richtigen“ Erprobungen zu wählen ist es daher auch, überhaupt ins regelmäßige Lernen durch Veränderungen zu kommen.
Für uns Organisationsbegleiterinnen bedeutet dies jedoch auch, dass es nicht ausreicht, nur auf der Prozessebene arbeiten zu können, sondern dass wir ebenso über eine Beratungskompetenz und reichhaltiges Erfahrungswissen zu agilen OE-Praktiken etc. verfügen müssen.
Wir können die Organisationsmitglieder unterstützen, die prinzipielle Ergebnisoffenheit für den Moment auszuhalten, um eigene praktische Erfahrungen damit sammeln zu können, die dann die notwendige Sicherheit geben. Jemanden mit Sorgen und Ängsten in einem geschützten Rahmen neue Erfahrungen zu ermöglichen, hilft meistens mehr, als ihm zu erklären, du musst dich nicht sorgen.
Bernd Oestereich